Goodbye Leningrad
Heirat«, sagte er.
Im September 1942 wurde meine Mutter, im siebten Monat schwanger, aus dem Militärkrankenhaus entlassen. Sie verstaute die Uniform, die ihr nicht länger passte, und kehrte mit ihrem kranken Ehemann nach Iwanowo in die Wohnung ihrer Eltern zurück, die inzwischen geräumig genug für alle war, da zwei ihrer Brüder fort waren. Wowa war im Fernen Osten, von wo sie kürzlich einen Brief von ihm erhalten hatten. Juwa schwieg weiterhin hartnäckig, und die Befürchtung meiner Mutter, dass er nicht mehr am Leben sei, wurde zur festen Überzeugung. Der dritte Bruder, Sima, der an die belorussische Front versetzt worden war, war nach seiner Verwundung nach Hause zurückgekehrt und quälte sich mit einem Metallsplitter, der einen Abszess hervorgerufen und in seinem Gehirn eine Infektion ausgelöst hatte.
Die Vorstellung, dass ein Arzt in einem Feldlazarett unsauber gearbeitet und in der Lunge ihres Bruders einen Granatsplitter zurückgelassen hatte, machte meine Mutter wütend. Sie erinnerte sich daran, dass sie selbst zu Beginn ihrer Laufbahn im Allerwertesten ihres ersten Ehemannes einen Schrapnellsplitter zurückgelassen hatte, aber ein Hinterteil war schließlich kein lebenswichtiges Organ, und selbst wenn ihr erster Sascha – in ihrer Vorstellung – hin und wieder Schmerzen haben mochte, so würde nicht ihr chirurgisches Versagen eines Tages seinen Tod herbeiführen.
|31| Indessen sollte der Splitter in Simas Lunge allerdings seinen Tod herbeiführen. Ihre Eltern, vor allem ihre Mamotschka, sprachen von seiner Genesung, aber meine Mutter wusste, dass er nicht überleben würde. Als Sima blind und delirierend in dem Zimmer lag, in dem alle drei Brüder aufgewachsen waren, saß sie an seinem Bett, maß seine Temperatur, spähte in seinen Hals und tat so, als würde jede noch so geringfügige medizinische Maßnahme etwas bewirken.
Tag für Tag saß sie an Simas Bett und dachte an ihren Bruder und ihren Mann, die beide im Sterben lagen. Sie konnte sie nicht heilen, daher konzentrierte sie sich auf das, was sie tun konnte. Sie verkaufte ihre Vierhundert-Gramm-Brot-Ration und erstand von dem Geld fünfzig Gramm Butter, in der Hoffnung, dass ihr Bruder und ihr Ehemann dadurch wieder zu Kräften kommen würden. Sie sah, wie Sima mit hohem Fieber dalag und seine rissigen Lippen bewegte, als wolle er etwas sagen; sie hörte Saschas feuchten Husten in seiner Brust rumoren wie die Kanonade, die sie mindestens einmal am Tag vernahmen. Wem versuchte sie etwas vorzumachen? Was sie tat, war vergeblich, das wusste sie, aber immerhin erforderte es Opferbereitschaft, und das war das Mindeste, was sie für ihren Bruder und ihren Mann tun konnte.
Als Sascha Blut zu spucken begann, wurde er im Krankenhaus von Iwanowo, der Alma Mater meiner Mutter, aufgenommen. Sie zog den Leiter der Tuberkulose-Klinik, ihren früheren Professor, zu Rate, der ihr beipflichtete, dass Sascha nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus nicht zu Hause bleiben dürfe, da er für ein Neugeborenes eine Gefahr darstelle. Doch bevor er fuhr, stahl er nicht nur die Butter und das Brot, sondern auch ein paar Seifenstücke aus dem Schrank meiner Großmutter und kaufte sich von dem Erlös eine Flasche schwarz gebrannten Schnaps.
|32| Sima starb am 1. November 1942 zu Hause. Meine Mutter wusch und rasierte ihn und kleidete ihn für die Beerdigung. Da sie nun fast im neunten Monat schwanger war, befanden ihre Eltern, dass der Gang zum Friedhof zu traumatisch für sie sei, geradezu eine Aufforderung für vorzeitige Wehen. Sie stand unter dem Vordach und sah zu, wie mein Großvater knallend die Peitsche schwang, sah zu, wie das Pferd schnaubte und einen Ruck machte, während der Karren mit meiner an Simas Sarg gelehnten Großmutter langsam über den Weg holperte, der von den kürzlichen Regengüssen ganz zerfurcht war.
Sascha fuhr am 7. November, drei Wochen vor der Geburt meiner Schwester, am Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, an dem in Friedenszeiten eine Parade stattfindet, die Menschen in Reihen marschieren und die Fahnen munter im Wind flattern. Sie wanderten im Nieselregen durch die Ruinen der Stadt und warteten auf den Zug, meine Mutter mit ihrem gewölbten Bauch und ihr zweiter Ehemann, der fünf Jahre später in seiner Heimatstadt an Tuberkulose sterben sollte, ohne seine Tochter je zu Gesicht zu bekommen. Als eine Rauchwolke aus dem Schornstein aufstieg und durch sämtliche Waggons, von der Lokomotive
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