Goodbye Leningrad
bis zum Postwagen, ein Ruck ging, machte sie einen Schritt auf die ratternden Räder zu und hob den Arm zum Abschied. Sie wartete, bis der Zug auf Spielzeuggröße zusammengeschrumpft war, bis die einzige Rauchfahne, die sie noch erkennen konnte, ein Streifen Ruß war, der aus einem tags zuvor bombardierten Gebäude aufstieg.
Mein Vater schließlich verhieß stabilere Verhältnisse. Er war vierzehn Jahre älter als meine Mutter, ein Witwer mit einer achtzehnjährigen Tochter. Auf einer ihrer Runden durchs Krankenhaus von Iwanowo war Wera, der Freundin meiner Mutter, die schon des Öfteren versucht hatte, sie mit irgendwelchen |33| Männern zu verkuppeln, ein Patient mit einem Magengeschwür aufgefallen, zweifellos ein bedeutender Mann, da er nicht etwa auf einer Station von der Größe eines Hörsaals, sondern in einem Zimmer mit nur drei weiteren Betten lag.
»Ilja Antonowitsch scheint ein äußerst seriöser Mann zu sein«, flüsterte Wera meiner Mutter zu, wobei sie nach dem Vornamen ehrfürchtig auch seinen Vatersnamen nannte. »Er ist Mitglied der Kommunistischen Partei und vor Kurzem zum Direktor einer Technischen Hochschule in Leningrad ernannt worden. Er braucht eine Frau, die sich um ihn kümmert«, setzte sie hinzu. »
Koscha da kosti
– nur noch Haut und Knochen.«
Vielleicht war die Aussicht auf ein Leben in Leningrad ausschlaggebend. Ihre Geburtsstadt Iwanowo hatte an Glanz verloren – vom Krieg verwüstet, getrübt von der Erinnerung an einen verstorbenen und einen vermissten Bruder, vom Bild des Zuges, der mit ihrem Ehemann davonfuhr, den sie nie wiedersehen sollte.
Mein Vater schwieg sich über seine Vergangenheit aus. Sie sei nicht der Rede wert und langweilig, behauptete er. Er hatte an der Kollektivierung der Jahre 1929 bis 1933 teilgenommen, als Stalin sämtliche wohlhabenden Bauern enteignete und die Landwirtschaft des Landes in Kolchosen umwandelte, in triste Dörfer mit einer hoffnungslosen, ständig betrunkenen Landbevölkerung, über die Offiziere der Roten Armee wachten, deren landwirtschaftliche Erfahrungen sich auf das Reiten von Pferden beschränkten, die ihnen die Armee zur Verfügung stellte. Dank seiner politischen Propagandaarbeit blieb meinem Vater der Einsatz im Großen Vaterländischen Krieg erspart, nicht jedoch der Skorbut, den er sich Mitte der Vierzigerjahre zuzog. Er wurde nach Iwanowo geschickt, um die durch den Krieg erschütterte Moral der Bevölkerung zu heben. Er stammte aus einem winzigen Dorf im äußersten Osten des |34| europäischen Russlands. Nie sprach er von seinen Eltern, und niemand in meiner Familie wusste, ob er überhaupt Geschwister hatte.
Für einen Mann von einundfünfzig Jahren war er durchaus gut aussehend – schlank, markante Gesichtszüge, braune Augen. Er hatte einen leicht schleppenden Gang und ließ sich beim Sprechen alle Zeit, so dass man vergaß, dass der Krieg gerade erst vorüber war. Er klang zuversichtlich und verlässlich. Eine Zweizimmerwohnung im obersten Stockwerk eines Neubaus in Leningrad stand für sie bereit, für sie allein, im Unterschied zu anderen Wohnungen, in denen drei Familien in drei Räumen zusammengepfercht waren und in der Gemeinschaftsküche und im einzigen Bad ständig kollidierten. Dank ihres kürzlich erworbenen Doktortitels konnte meine Mutter mit Leichtigkeit an einer der Medizinischen Hochschulen Leningrads eine Anstellung als Dozentin für Anatomie finden. Außerdem brauchte meine achtjährige Schwester Marina, die Tochter ihres zweiten Sascha, einen Vater.
Meine Großmutter betrachtete Ilja Antonowitschs Antrag als einen sozialen Aufstieg. Er hatte eine gut bezahlte, angesehene Stellung, und ein Magengeschwür war keine Tuberkulose. Es war eine Krankheit, mit der man umgehen konnte, die auch ihr Gutes hatte: Sie ließ keinen Alkohol zu.
Meine Mutter gab ihr Jawort, trotz eines kribbelnden Schuldgefühls in der Herzgegend, das sie daran erinnerte, dass sie nicht dasselbe Feuer verspürte wie damals, als sie ihren kranken, dem Alkohol verfallenen Sascha geheiratet hatte. Sie war jedoch nicht länger wagemutig oder jung: Zwei gescheiterte Ehen und zwei Kriege sowie zwei verstorbene Brüder hatten ihre Begeisterungsfähigkeit gedämpft und sie praktisch und umsichtig werden lassen.
Leningrad war eine echte Hauptstadt, Peter des Großen |35| »Fenster nach Europa«. Es war die erste Großstadt, die sie je gesehen hatte, die barocken Bögen des Kirow-Theaters nur zwei Straßen von ihrer neuen
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