Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goodbye Leningrad

Goodbye Leningrad

Titel: Goodbye Leningrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Gorokhova
Vom Netzwerk:
Monat stellte sie fest, dass er Alkoholiker war.
    Zu spät kam ihr der Ausspruch meiner Großmutter in den Sinn:
Pospeschisch   – ljudej nasmeschisch
. Wer übereilt handelt, macht sich zum Gespött der Leute.
     
    Mit dem Frühling kamen die ersten verwundeten Zivilisten. Als das Eis auf der Wolga porös und brüchig wurde, explodierten die im Fluss festgefrorenen Minen bei der geringsten Verlagerung, so dass Scharen von Vögeln in die Lüfte aufstiegen |28| und ganze Fischschwärme mit dem Bauch nach oben an der Wasseroberfläche trieben. Die Menschen der Gegend wateten mit Eimern in den Fluss, um die inmitten der Eisschollen treibende unverhoffte Ernte einzuholen, wodurch weitere Explosionen ausgelöst wurden.
    Es war verboten, in einem Militärkrankenhaus Zivilisten zu behandeln. Als jedoch eine Frau an einem Morgen im April einen bewusstlosen neunjährigen Knaben zu meiner Mutter brachte, zögerte sie nicht lange. Sie knöpfte seine wattierte Jacke und schlammdurchtränkte Hose auf und löste sie behutsam von seinem durchlöcherten Körper, wobei sie blinde Bauchwunden offenlegte: eingedrungene Granatsplitter, die nicht wieder ausgetreten waren. Zusammen mit der Frau, deren Sohn von derselben Granate getötet worden war, trug sie den Jungen mit kleinen, langsamen Schritten, die sie aufeinander abstimmten, in den Operationsraum. Dort nahm sie ein Skalpell aus dem kochenden Wasser, machte einen Schnitt und klappte Hautlappen auseinander, wodurch etliche Wunden in den Eingeweiden des Jungen, große und kleine Löcher in den Windungen seines Bauches, zutage traten. Sie betupfte die Gedärme des Knaben mit einem Antiseptikum und nähte die Löcher zu, eins nach dem anderen.
    Sobald sie damit fertig war, stürmte der Krankenhaus-Politkommissar herein, brüllte, sie würde sich über eine militärische Anordnung hinwegsetzen, und zitierte sie unverzüglich ins Büro des Direktors.
    »Vorschriften sind Vorschriften«, murmelte Dr.   Kremer, über einen Haufen Papiere auf seinem Direktorenschreibtisch gebeugt. »Sie waren nicht befugt zu operieren.«
    »Der Patient ist neun Jahre alt«, sagte meine Mutter. »Er muss noch drei Tage hierbleiben. In drei Tagen kann ich ihn ins städtische Krankenhaus verlegen.« Sie dachte, wie engstirnig |29| und verständnislos er doch sei, ein typischer Mann. In Gedanken kehrte sie zu dem Kind im Operationsraum zurück und versuchte, sich ein zehnjähriges Mädchen irgendwo jenseits des Urals vorzustellen, die Tochter ihres neuen Ehemannes, der hustend auf ihrer Turnmatte lag. Oder war vielleicht sie engstirnig und verständnislos?
    Dr.   Kremer rieb sich die Stirn und sah sich in dem Raum um. Meine Mutter folgte seinem Blick: ein kleiner eiserner Ofen ohne Holz, Stiefelabdrücke auf dem an den Fensterrahmen genagelten Sperrholz, an der Wand eine vom Rektor der Schule zurückgelassene Karte der Sowjetunion vor dem Krieg: grün und braun in der Mitte, blau im Norden, mit einem großen roten Stern für Moskau, wo Dr.   Kremer aufgewachsen war.
    »Drei Tage«, sagte er. »Nicht länger.« Er ging zum Schreibtisch und blätterte durch diverse mit ominösen Stempeln und energischen, unleserlichen Unterschriften versehene Papiere, die wie militärische Anordnungen aussahen. »Und Dr.   Gladki   …«, wandte er sich an meine Mutter.
    »Maltsewa«, sagte sie und wunderte sich, wie befremdlich ihr neuer Name aus ihrem Mund klang. »Ich habe soeben geheiratet.«
    Sie starrte in das graue Antlitz des Direktors und dachte, er würde ihr womöglich im nächsten Moment verkünden, dass sie wegen Verstoßes gegen die militärischen Vorschriften vor ein Kriegsgericht gestellt werde. Meine Mutter war sich darüber im Klaren, wie schnell es in solchen Fällen zur Sache gehen konnte. Onkel Wolja war, nachdem man ihn fünf Jahre zuvor verhaftet hatte, bei einem Fluchtversuch aus einem Lager in Workuta erschossen worden. So hieß es in dem Schreiben des NKWD: »bei einem Fluchtversuch erschossen«. Meine Mutter konnte sich ihren sanftmütigen, asthmatischen Onkel Wolja beim besten Willen nicht über Mauern kletternd oder rennend vorstellen. |30| War er am Ende doch schuldig? War seine Bestrafung der Preis dafür, dass die Ordnung aufrechterhalten wurde?
    Bereit, die Konsequenzen ihrer Gehorsamsverweigerung zu tragen, beobachtete sie, wie Dr.   Kremer aufstand und die Papiere beiseite schob. Sie beobachtete, wie sich seine Augenwinkel leicht in Falten legten.
    »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer

Weitere Kostenlose Bücher