Goodbye Leningrad
befremdeten Blicken der versammelten Empfangsdamen auf dem Absatz kehrt und stürmte mit den Päonien, die er inzwischen wie eine Waffe in der Faust hielt, hinaus. Jetzt hatte er – in seinem Alter – nicht nur ein Baby, sondern auch noch ein Mädchen! Er stieg ins Auto und trug Wolodja auf, ihn aus der Stadt zu fahren, fort von dieser zweifachen Schande.
Sechs Tage lang wohnte er zusammen mit seinem Fahrer, der ihn morgens nach Leningrad brachte und abends wieder aus der Stadt herausfuhr, in der Datscha eines Freundes. Schließlich tauchte er auf Drängen seiner Tochter Galja, des überlebenden Bruders meiner Mutter sowie besagten Freundes, dessen Datscha ihm als Refugium diente, mit einer Nachricht für meine Mutter im Krankenhaus auf. Die Dame am Empfang faltete die Nachricht zusammen und übergab sie der Schwester, die sie sogleich in die zweite Etage trug.
Sei nicht traurig, hatte mein Vater geschrieben. Mädchen sind auch in Ordnung.
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WRANJO, DIE KUNST DER VERSTELLUNG
Tante Polja
»Iss deine Suppe, Gorokhova, sonst stirbst du!«, keift Tante Polja über meinem Kopf. Sie nennt uns alle beim Nachnamen und ist in Wirklichkeit nicht meine Tante.
Ich bin fünf – bis zu meiner Einschulung sind es noch anderthalb Jahre –, und in einem Kindergarten, wo wir um zwölf Uhr mittags dicht gedrängt zu dreißig an drei rechteckigen Tischen sitzen und auf Butterbroten herumkauen. Es ist das Jahr 1961, und Juri Gagarin, unser sowjetischer Held, ist soeben aus seiner Rakete gestiegen, mit der er die Erde umkreist hat. Tante Polja steht da, eine fleckige Schürze spannt über ihrem Bauch, und hält einen Milchkrug und ein dickwandiges, geripptes Glas in ihren Händen. Die Milch ist warm und die Butter vereint sämtliche ranzigen Gerüche der Küche in sich, aber wir essen und trinken, weil wir keinen Ärger mit Tante Polja haben wollen. Wir wollen sie nicht schreien hören oder erleben, wie ihr Bauch mit der Schürze drohend über unseren Gesichtern auftaucht.
Tante Polja herrscht über die Küche des Kindergartens. Diese befindet sich hinter der großen Tür mit der abblätternden Farbe, der wir uns nicht nähern dürfen. Ich fürchte, sie könnte womöglich für mehr zuständig sein, als Butterbrote zu machen |39| und Milch einzuschenken, für mehr, als uns zu ermahnen, zu kauen, zu schlucken und nur ja keinen einzigen Brotkrümel zu vergeuden. Sie könnte für unser Leben zuständig sein, denn laut Tante Polja sind unsere Atmung und Gesundheit eine Frage der Ernährung.
»Wenn du deine Milch nicht austrinkst, wirst du krank!«, schreit sie, inzwischen über meinem Freund Genka aufragend, und beinahe glaube ich ihr.
Nach dem Essen drängen wir uns im Flur, wo unsere Mäntel an in die Wand genagelten Haken hängen. Wenn wir alle warm eingepackt sind, gehen wir nach unten in den Hof, zur Sandkiste und der großen Rutsche aus Holz. Genka und ich sind die Einzigen, die sich im Winter trauen, im Stehen die vereiste Fläche hinunterzugleiten. Die Rutsche steht in der Mitte des Spielplatzes, und wir werden in Zweierreihen dorthin getrieben, in kratzenden Wollstrumpfhosen und Galoschen über
walenki
-Stiefeln aus Filz, die Hälse stramm mit Schals umwickelt und die Taillen mit Gürteln über den wattierten Mänteln zugeschnürt. Dadurch kann ich beim Rutschen, während mir die eisige Luft ins Gesicht peitscht, nur mit Mühe die Arme ausbreiten und hoffe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und auf das zu plumpsen, was meine Mutter meine »weiche Stelle« und Genka meinen »Arsch« nennt.
Nun aber ist es Frühling, die ideale Zeit, um den Hof zu erkunden. Wir wissen, dass es unter den Gebäuden höhlenähnliche Gewölbe gibt – verlockend, schaurig und verboten. Während Raja, ein Mädchen mit roter Schleife, wegen einer in sich zusammengestürzten Sandburg weint, die unsere Kindergärtnerin Sinaida Wassiljewna in Augenschein nimmt, stehlen Genka und ich uns heimlich vom Spielplatz. Wir verstecken uns hinter riesigen Mülltonnen aus Aluminium und tauchen unter einen Torbogen, der durch einen feuchten, tunnelartigen |40| Durchgang zu einem weiteren Hof führt, der nur durch einen Metallzaun von der Straße abgetrennt ist. Bei der Vorstellung, dass wir lediglich durch das Tor gehen müssten, um auf dem Bürgersteig direkt neben der von meiner Mutter wegen der gefährlichen Straßenbahnen und rasenden Lastwagen verteufelten Straße zu stehen, ist uns ganz mulmig zumute. Im Moment gilt unser Interesse
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