Gorian 1: Das Vermächtnis der Klingen
folgenden Zeit begann Nhorich mit seinem Sohn den Umgang mit den Schwertern Sternenklinge und Schattenstich zu üben.
Täglich kehrte ein Stück mehr von Nhorichs ursprünglicher Vitalität zurück. Nur die Wunde an seiner Hand wollte nicht heilen. Sie änderte ihre Farbe vom hellen Rot einer frischen Brandwunde zu einem sehr viel dunkleren Ton, der an ein Feuermal erinnerte. Manchmal war sie über Tage oder gar Wochen hinweg geschlossen, dann aber quoll plötzlich wieder Blut daraus hervor, das mal dunkelrot, dann ganz schwarz war.
»Das ist die dunkle Kraft, die ich durch die Erinnerungen des Gargoyle in mich aufgenommen habe«, erklärte er dazu. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mein Sohn. Diese Kraft muss raus, denn sie ist so überflüssig wie damals die Schlacke der Schwerter – nur dass die Kraft in diesem schwarzen Blut nicht ausreicht, dass daraus ein ähnliches Wesen wie Ar-Don entsteht.«
Manchmal trug er über Tage hinweg Bandagen um seine Hand, und schließlich ließ er sich einen speziellen Handschuh anfertigen, um das Schwert weiterhin mit beiden Händen führen zu können, wie es der Kunst eines Schwertmeisters entsprach, ohne dass er dabei durch die Wunde behindert wurde.
Monate vergingen. Der Winter kam und war so hart und lang wie keiner zuvor. Nie hatte es so viele geflügelte Fische in der Bucht von Thisilien gegeben, und die besonders flachen Regionen am Estrigger Ufer waren sogar für ein paar Wochen von einer tückischen dünnen Eisschicht bedeckt.
Die Kunde davon verbreitete sich trotz der harten Witterung wie ein Lauffeuer, denn so etwas war bislang nur aus den Buchten Torheims und Orxaniens bekannt. Zusammen mit dem eisigen Nordwind und der tief stehenden, fahl scheinenden Sonne schien das eine Warnung zu sein. Der Schattenbringer, der zuvor, je nach Wetterlage, manchmal sogar noch vom Licht der Sonne überstrahlt wurde, verdunkelte diese nun so sehr wie noch nie. Ein Zeichen des Himmels, dass die Bedrohung, die man so lange für fern gehalten hatte, ihre Klauen auch nach Süden ausstreckte. Viele, die insgeheim gehofft hatten, dass das Unheil nicht mehr zu ihren Lebzeiten und vielleicht nicht einmal mehr zu denen ihrer Kinder und Kindeskinder das Heilige Reich heimsuchen würde, strömten nun in die Tempel des Verborgenen Gottes und flehten um Gnade und Hilfe.
Aber mit dem Frühling schmolz das Eis, und da dieser Frühling so warm war wie immer, verbreitete sich die Ansicht, dass dieser Winter nur eine Episode gewesen wäre, die nichts für die nähere Zukunft zu bedeuten hätte. Vielleicht ein vergeblicher Vorstoß des Frostreichs nach Süden, der seinem Herrn die Grenzen seiner Kraft aufgezeigt hatte. Zumindest behauptete das der Priester von Twixlum während der Messen in seinem Tempel, und Gorian lauschte dessen Predigten, wenn er zu den Schultagen in den Ort kam.
Offenbar wollten die allermeisten seinen Worten glauben – und auch Gorian hätte sie gerne für wahr gehalten, wären die Zeichen, die für eine andere Deutung der Geschehnisse sprachen, nicht so drängend gewesen.
Er ging immer seltener zu den Schultagen nach Twixlum, denn er hatte das Gefühl, dort nicht mehr viel zu lernen, was für ihn von Nutzen sein könnte. Stattdessen widmete er sich ganz der Ausbildung durch seinen Vater: das unmittelbare Vorhersehen einer gegnerischen Aktion, die Handhabung des Schwerts, seine Führung und die Entfaltung der Alten Kraft. Das alles zu erlernen brauchte Zeit. Selbst dann, wenn der Schüler sehr begabt war.
Gorian aber war voller Ungeduld. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass er dem Herrn des Frostreichs Einhalt gebieten konnte, dann sollte das so schnell wie möglich geschehen, fand er. Aber sein Vater gemahnte ihn zur Ruhe und Geduld.
»Es lässt sich nicht erzwingen, mein Sohn. Und manchmal ist die verstrichene Zeit derjenige Faktor, der die Schlacht entscheidet. Den richtigen Zeitpunkt erkennen zu können, ist Morygors größte Gabe, und wir werden ihm darin nie ebenbürtig sein. Doch will der Schwächere den Stärkeren besiegen, ist der Aspekt der Zeit dennoch extrem wichtig: Du musst dir die Zeit nehmen, die du brauchst, um derjenige zu werden, der Morygor begegnen kann.«
»Und wenn ich bis dahin ein alter Mann bin?«, fragte Gorian.
»Dann ist es so. Deine Ungeduld, deine Unbedachtsamkeit und dein noch nicht ausgebildeter Sinn für den richtigen Moment sind Morygors stärkste Verbündete. Deshalb wird er glauben, dich töten zu können, bevor
Weitere Kostenlose Bücher