Gorian 2
dieses Wissen in meine Entscheidungen mit einbeziehen.«
»Entscheidungen?«, ereiferte sich Thondaril, der wieder Herr seiner selbst war. Seine ebenfalls schwarz gewordenen Augen zeigten an, dass er seine magischen Kräfte konzentrierte, um gegen weitere Beeinflussungsversuche des Namenlosen gewappnet zu sein. »Was gibt es da noch zu entscheiden?«
»Ihr seid ein Mensch«, entgegnete der Namenlose mit leiser, ruhiger Stimme. »Die Caladran nennen euch ›Söhne des Todes‹, denn der Tod hält euch in seinen Klauen, noch bevor ihr euch eurer selbst bewusst werdet. Daher rührt auch eure Ungeduld. Aber ich habe nicht die Absicht, mich davon zu vorschnellen Entschlüssen treiben zu lassen, sondern werde die wichtigen Entscheidungen, die anstehen, mit Bedacht treffen.«
»Von welchen Entscheidungen sprecht Ihr?«, mischte sich Gorian wieder ein.
Der Namenlose wandte fast provozierend langsam den Kopf. Gorian fiel auf, dass seine Augen nicht goldfarben waren, wie es bei den meisten Caladran der Fall war, sondern dunkel, fast schwarz. Ein hintergründiges Lächeln spielte um seinen dünnlippigen Mund.
»Der Schüler stellt die richtigen Fragen, ganz so, wie es sein sollte«, murmelte er. »So höre denn die Antwort: Ich werde sehen, welche Wege und Wahrscheinlichkeiten in der
Zukunft mit deinem Namen verknüpft sind und ob die Möglichkeit besteht, dass du der Stein sein könntest, der ins Auge des Riesen trifft und ihn zu Fall bringt.«
»Morygor befürchtet dies.«
»Die Befürchtungen eines anderen sind für mich kein Maßstab. Morygor hat selbst so viel Furcht verbreitet, dass sie manchmal auf ihn zurückschlägt, so wie eine Schlange ihr eigenes Gift einnimmt, wenn sie ihre Beute verschlingt.«
»Gesetzt den Fall, Ihr kommt zu dem Schluss, dass der Kampf gegen Morygor nicht von vornherein aussichtslos ist, seid Ihr dann bereit, uns zu helfen?«
»Dann werde ich sehen, was zu tun ist.«
Noch etwas war Gorian aufgefallen: »Ihr sprecht von den Caladran wie von einem Euch fremden Volk.«
»Sie wurden mir fremd, obwohl ich einer der ihren war, denn sie haben mich verstoßen. Ich gehöre nicht mehr zu ihnen und empfinde nichts mehr für sie als pure Verachtung.«
»Ist es das, was Euch daran hindert, das Notwendige zu tun?«, frage Gorian.
Ein Ruck ging durch die Gestalt des Namenlosen. Er stand da, blickte Gorian auf eine Weise an, die vieles zugleich ausdrückte: Hass mischte sich mit Abscheu und dem offensichtlichen Erschrecken darüber, dass dieser sterbliche Jüngling ihn weit mehr durchschaute, als ihm lieb sein konnte. Seine Nasenflügel bebten, als er entgegnete: »Du einfältiger Sohn des Todes glaubst vielleicht, dass du einfach nur ein paar der Caladran-Schriften zu ihren Inseln bringen musst, um ihr Wohlwollen zu gewinnen! Aber da bist du im Irrtum. Die Frage, welche dieser Schriften man ihnen übergibt, ist ebenso sorgfältig zu erwägen wie die, ob dieses Unterfangen überhaupt sinnvoll ist. Sonst wirst du keinen Frieden stiften, sondern nur neue Gegnerschaft!«
Der Namenlose machte eine weit ausholende Geste mit beiden Armen, wobei ein bläulicher Schein Schultern und Arme bis zu den Ellbogen umflorte.
»Geht!«, rief er, und seine Worte dröhnten Gorian gleichzeitig als Gedankenstimme im Kopf, sodass er sie zweifach hörte, in der Sprache Gryphlands und in dem geheimnisvoll klingenden Idiom der Caladran. »Geht und verschont mich mit Eurem Geschwätz, das so flüchtig ist wie Eure gesamte Existenz, und wartet ab, bis ich Euch rufen lasse und meine Entscheidung verkünde!«
»Wie lange wird das dauern?«, verlangte Gorian zu wissen.
Aber die Antwort bestand nur darin, dass sich die Augen des Namenlosen mit einem grellen Licht füllten, das zunächst bläulich schimmerte, dann aber weiß und so hell wurde, dass alle im Raum die Gesichter abwandten und mit den Armen schützten, um nicht geblendet zu werden.
Gorian schauderte für einen Moment, als er die Stärke jener Magie spürte, die bei dem Caladran wirksam war, und Thondaril und Torbas wichen zurück.
Gorian wollte noch etwas einwenden, aber ein sehr eindringlicher Gedanke Sheeras hielt ihn davon ab.
»Es hat keinen Sinn. Nicht so.«
6
Gefangener in Dunkelheit
Meister Thondaril war außer sich. Noch in derselben Nacht suchte er ein weiteres Mal Oras Ban auf, um ihn dazu zu bewegen, den Befehl des Königs gegenüber dem Namenlosen durchzusetzen.
Aber das war vergeblich.
Am nächsten Tag rief er die Ordensschüler in sein
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