Gorian 3
beiden Mitglieder des Ordens gebildet, und man verfolgte gleichermaßen interessiert wie kritisch, was mit den Verletzten geschah. Einige der Männer stritten lautstark darüber, wer schuld daran war, dass die Steine auf sie herabgefallen waren, und ein paar Frauen äußerten sich bewundernd über die Künste der Heiler. Gorian stellte amüsiert fest, dass er dabei die größere Aufmerksamkeit genoss. Der Grund dafür leuchtete ihm bald ein. Der Meisterring an seiner Hand war nicht unbemerkt geblieben, und die Umstehenden nahmen deshalb an, dass er ein Heilermeister war.
Auf einem der Dächer nahm er eine Bewegung war. Ein
Gargoyle spreizte dort die Flügel und sah geradewegs in seine Richtung. Hätte ihn nicht der Lichtschein aus einem zwei Stockwerke höheren Nachbarhaus angestrahlt, Gorian hätte ihn nicht bemerkt.
»Ich soll dir noch etwas geben, Sheera«, sagte der Zahlenmagier, nachdem Sheera alles für ihn getan hatte, wozu sie die Kunst einer Heilerin befähigte.
Brethenes stand auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Gorian schloss sich ihnen an, und sie tauchten in eine andere schmale Gasse ein, gerade noch rechtzeitig, bevor alle möglichen Kranken sie bedrängt hätten.
»Was beunruhigt dich?«, erkundigte sich Sheera in Gedanken bei Gorian, während sie dem Zahlenmagier zu einem Haus folgten, das ebenso überbelegt war wie im Moment wohl jedes Gebäude in Nelbar.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich einfach nur wachsam.«
»Wir können Brethenes auf jeden Fall vertrauen. Ich kenne ihn, seit ich ein kleines Mädchen war.«
»Sag bloß, er hat dir das Rechnen beigebracht.«
»Um ehrlich zu sein, ich habe als Kind sogar bedauert, dass mein Hinterkopf einfach nicht zu wachsen anfangen wollte.«
Der Zahlenmagier brachte sie in seine Wohnung, die nur aus einem einzigen Raum bestand, den er sich im Moment noch mit einer Bauernfamilie und einem Priester teilte. Die Bauernfamilie stammte aus Garilanien und vermisste zwei von sechs Kindern, die während der chaotischen Flucht in den Süden verloren gegangen waren. Der Priester war als Legat des Bischofs von Attrantia im ganzen Heiligen Reich unterwegs gewesen, aber seit er die Zerstörung der Kathedrale von Toque mitangesehen hatte, sprach er ständig davon, dass Erdenrund unrettbar verloren war und zu einem Ort der Finsternis werden würde. Offensichtlich habe der
Verborgene Gott seine Macht restlos eingebüßt, denn wie wäre es sonst zu erklären, dass er all das Unheil geschehen ließ?
Der Priester stierte stumpfsinnig vor sich hin, und sein Blick ähnelte dem der Frau des Bauern, die offenbar nicht darüber hinwegkam, dass sie zwei ihrer Kinder wohl niemals wiedersehen würde.
»Der Magistrat von Nelbar hat angeordnet, dass jeder Stadtbewohner Flüchtlinge aufnehmen muss«, erklärte der Zahlenmagier, während er sich am Schloss einer Truhe zu schaffen machte. »Das bringt natürlich jede Menge Unannehmlichkeiten mit sich, aber es hat auch ein paar Vorteile. Zum Beispiel ist immer jemand da, der auf meine Sachen aufpasst. Ihr glaubt ja nicht, wie viel zurzeit in Nelbar gestohlen wird.«
»War das nicht immer schon so?«, erinnerte sich Sheera.
»Aber nie wie im Moment. Die öffentliche Ordnung steht kurz vor dem Zusammenbruch. Und da sich der Verborgene Gott als offenbar machtlos erwiesen hat, hält nicht einmal der Glaube die Menschen vom Bösen ab. Womit ich natürlich nicht sagen will, dass das Böse nur von Menschen ausgeht und sich nicht mehr oder minder gleichmäßig auf alle Völker verteilt, mein eigenes eingeschlossen. Allerdings stellen die Menschen hier nun einmal unzweifelhaft die Mehrheit.«
Gorian ließ den Blick schweifen, während der Priester sagte: »Wir sind alle verdammt! Die Hölle ist nahe!«
Aus irgendeinem Grund hatte Gorian das Gefühl, beobachtet zu werden. Da war etwas. Jemand.
Er drehte sich um, aber außer den Augenpaaren der Bauernfamilie war da nichts, das ihn anstarrte.
Endlich hatte der Zahlenmagier die Truhe geöffnet. Er holte einen zylinderförmigen Behälter daraus hervor, wie er
zur Aufbewahrung von Schriftrollen und Dokumenten benutzt wurde. In der Bibliothek der Ordensburg auf Gontland hatte es davon unzählige gegeben.
Dieser war allerdings versiegelt.
»Das ist für dich, Sheera. Deine Eltern baten mich, dir dies zu übergeben, falls du doch noch, durch welche glückliche Fügung auch immer, hier auftauchen solltest. Du siehst, dass ich das Siegel nicht angetastet habe – bei meiner Ehre als
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