Gorian 3
dort zu befragen hätte keinen Sinn.«
»Ich nehme aber nicht an, dass du das einfach hinnehmen willst.«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und antwortete nur mit einem Gedanken. »Wir werden sehen …«
Als sie die Nebenstraße erreichten, herrschte dort großer Tumult. Die Steine des eingestürzten Schornsteins hatten etwa ein halbes Dutzend Menschen, einen Zahlenmagier und einen Oger schwer verletzt. Natürlich war kein Arzt zur Stelle, geschweige denn ein Heiler des Ordens.
Für einen Mann in mittleren Jahren, der von einem der Steine am Kopf getroffen worden war, kam jede Hilfe zu spät. Da konnte auch ein Heiler nichts mehr ausrichten, selbst wenn er seine Kunst in allerhöchster Vollendung beherrschte. Er starb, bevor Sheera die erste Stärkungsformel überhaupt über die Lippen gebracht hatte.
Aber die anderen hatte es weniger schlimm erwischt. Die leichteren Fälle überließ Sheera ihrem Gefährten. Während sich Gorian um den Oger kümmerte, dessen Arm offenbar gebrochen war, schimpften ein paar aufgebrachte Männer darüber, dass man innerhalb der Mauern von Nelbar seit einiger Zeit ja nicht mehr seines Lebens sicher war, weil die fremden Truppen, die sich in und um die Stadt herum sammelten, nicht die geringste Rücksicht auf die Bevölkerung nahmen.
»Sheera!«, stieß unterdessen der Zahlenmagier hervor. Dieser hatte eine schwere und vor allem stark blutende Verletzung am ballonartigen Hinterkopf davongetragen. Sein Gesicht war ebenso blutverschmiert wie seine Kleidung, und wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass Sheera ihn nicht gleich wiedererkannt hatte.
»Brethenes!«, stieß sie aber nun ebenso überrascht hervor.
»Wie lange habe ich deinen Eltern als Zahlenmagier gedient. «
»Weißt du, wo sie geblieben sind?«, fragte Sheera. »Ich war in unserem Haus, aber das ist über und über mit Flüchtlingen belegt. Mir scheint, sie sind schon seit längerem nicht mehr dort gewesen.«
»Es kamen schlimme Nachrichten aus dem Norden«, antwortete der Zahlenmagier, während sich Sheera seine Verletzungen ansah. »Es hieß, die Ordensburg sei vernichtet, und angeblich hätte dort niemand überlebt.«
»Wo sind sie jetzt?«
»Sie haben sich nach Margorea eingeschifft, nachdem sie die Hoffnung aufgegeben hatten, trotz allem noch etwas von dir zu hören. Danach stiegen die Preise für eine Passage ins schier Unermessliche. Du glaubst nicht, was man ausgeben muss, um nur einen Platz im Zwischendeck zu ergattern. Margorea ist zurzeit das Land der Seligen. Deine Eltern haben hier alles zu einem lächerlichen Preis verkauft und sind an Bord eines Schiffes gegangen.«
»Wie lange ist das her?«
»Vielleicht zwei Wochen. So lange haben sie darauf gewartet, dass sie vielleicht doch noch ein Lebenszeichen von dir erhalten. Deine Mutter ist jede Tag in die Kathedrale gegangen, um zu beten.«
Sheera schluckte. »Dann habe ich sie nur um zwei Wochen verpasst?«
»Ja. Sie fürchteten, dass sie in Kürze gar nicht mehr fortkämen. Für ein Dokument, das eine Passage ermöglicht, werden bereits Morde begangen, dabei sind die meisten plumpe Fälschungen. Zudem haben manche Kapitäne auch mehr Dokumente verkauft, als sie eigentlich Plätze auf ihren Schiffen haben. Seit das Heer des Herzogs hierher verlegt wurde, jeden Tag Gondeln aus dem Basilisken-Reich und aus Gryphland eintreffen und sich die Truppen sammeln, ist auch dem
Letzten klar geworden, dass es bald ernst wird.« Der Zahlenmagier zuckte mit den Schultern. »Ich habe zu lange gewartet. Jetzt kann ich mir kein Passagendokument mehr leisten. Also werde ich wohl hier ausharren müssen. Aber beinahe hätte ich das Ende nicht mal erlebt.«
»Noch sind wir nicht verloren«, erwiderte Sheera, dann murmelte sie einen Heilspruch und berührte dabei den ballonartigen Kopf des Zahlenmagiers. Die Blutung kam zum Stillstand.
Einige der Steine des Schornsteins waren auf dem Straßenpflaster zerbrochen. Sheera nahm eines der Bruchstücke, das sich ihrer Einschätzung nach sowohl von der Beschaffenheit als auch von der Größe her als Heilstein eignete, und legte es auf die Kopfwunde des Zahlenmeisters. Dann wurden ihre Augen schwarz, und sie sprach erneut eine Formel in altnemorischer Sprache.
Gorian kümmerte sich unterdessen um den Oger und einen Jungen von etwa vierzehn Jahren. Für deren Verletzungen reichten seine bisher im Haus des Heilens erworbenen Kenntnisse aus.
Es hatte sich ein großer Kreis von Menschen und anderen Geschöpfen um die
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