Gorian 3
hatte, brodelte seit jenem Ereignis in ihm. Und wer außer Thondaril hätte ihm darauf eine auch nur ansatzweise zufriedenstellende Antwort geben können?
Meister Thondaril berührte Gorians Schläfen mit den Zeigefingern. Der junge Schwertmeister spürte einen kribbelnden
Strom der Kraft, der zuerst seinen Kopf und dann seinen gesamten Körper durchrieselte. Eine Kraft, die jeden Winkel seines Geistes durchsuchte und durchforschte.
Schließlich ließ Thondaril die Hände sinken. Ein paar kleinere Lichtblitze zuckten noch aus seinen Finger. Entladungen, die allerdings keinerlei weitere Bedeutung hatten, wie Gorian wusste.
»Denk an den Moment, als der Zwilling bei seinem letzten Angriff emporflog«, forderte Thondaril.
»Ich habe Euch doch alles bis ins letzte Detail berichtet, Meister. Selbst meine Erinnerungen habe ich Euch gegeben.«
»Es geht nicht darum, was ich erkennen kann, sondern darum, dass du es erkennst. Ich habe mir mein Bild gemacht, aber was ich sehe, könntest du noch viel deutlicher erfassen. Also denk an diesen Moment. Vergegenwärtige ihn dir, auch wenn du den Gedanken daran vermutlich eher meidest, so wie wir es mit allem tun, was wir als Niederlage empfunden haben.«
»Ich tue, was Ihr verlangt«, erklärte Gorian. Vor seinem inneren Augen sah er erneut, wie ihn der Gargoyle angriff, wie er vom Boden aufstieg, dann wieder fiel, taumelte, als ob man ihn betrunken gemacht hätte, was bei Gargoyles mit Sicherheit nicht möglich war.
»Ich erkenne es nicht«, gestand Gorian. »Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich den Angriff nicht exakt genug voraussehen konnte. Mein Schwertstreich verfehlte ihn. Es ist lange her, dass mir das zum letzten Mal passiert ist.«
»Konzentriere dich noch einmal darauf!«, verlangte Meister Thondaril und fügte noch einen sehr intensiven Gedanken hinzu, der seinen Ärger zum Ausdruck brachte: »Du bist kein Schüler mehr! Eines Meisters ist es unwürdig, sich so schnell zufriedenzugeben!«
Gorian schwirrte der Kopf. Wieder und immer wieder sah er denselben Moment vor sich. Was mochte es sein, das er hätte erkennen müssen? Das ungewöhnliche Zögern vor dem Hochschnellen des Gargoyles? Nein, das war es nicht. Zumindest nicht allein.
Seine Augen wurden schwarz, er sammelte die Alte Kraft in seinem Inneren.
Und dann sah er es klar und deutlich vor sich und fragte sich, weshalb er es nicht längst erkannt hatte. Ein Moment der Erleichterung und der Erkenntnis, der alles vollkommen logisch und folgerichtig erscheinen ließ.
Voraussehbar!, durchfuhr es ihn.
»Es ist das Element des Chaos«, stellte er fest. »Der Angriff folgte keinem Plan, der Zeitpunkt war vollkommen willkürlich gewählt, und während der Gargoyle ihn ausführte, taumelte er, als ob er sich fallen ließe.«
»Darum hätte er dich beinahe besiegt, Gorian. Es ist schwer, vollkommen absichtslos zu sein und auf wirklich zufällige Weise zu handeln. Aber Morygor hat Ar-Dons Zwilling wahrscheinlich entsprechend geschaffen. Das, was du mir geschildert hast, sollte dir Anlass zu allergrößter Wachsamkeit sein.«
»Ja, Meister.«
»Aber es zeigt auch, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden und bereits Entscheidungen getroffen haben, die Morygor in Bedrängnis bringen. Anscheinend bist du wieder gefährlicher für seine Schicksalslinie geworden.«
Meister Thondaril sah seinem ehemaligen Schüler direkt in die Augen. Für einen Moment schwiegen sie.
»Unterschätze niemals das Element des Chaos, Gorian. Morygor tut es ganz bestimmt nicht.«
In der Nacht erwachte Gorian von einem Gesang, der ihm in den Ohren zu dröhnen schien. Doch als er dann wach war, erkannte er, dass er diesen Gesang nicht wirklich hörte, sondern nur die entsprechenden Gedanken wahrnahm. Es waren Worte in einem alten Dialekt der Caladran. Formeln, die Gorian aus dem Reich des Geistes bekannt vorkamen, auch wenn er nicht begriff, aus welchem Anlass sie in diesem Moment gesprochen wurden.
Aber da er die Gedanken derer wahrnahm, die diese Formeln sprachen, konnte er auch durch ihre Augen sehen. Es waren Schamanen und Magier der Caladran, an ihren Gewändern und ihren Amuletten ebenso eindeutig zu erkennen wie an der Kraft ihrer Gedanken. Sie standen im Mondlicht auf dem Achterdeck der Hoffnung des Himmels und intonierten ihre Beschwörungen in einem endlosen Singsang vor sich hin. Zwei Dutzend von ihnen bildeten dabei einen Kreis.
Gleich neben dem derzeitigen Ankerplatz der Hoffnung des Himmels bewegte sich auf
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