Gotland: Kriminalroman (German Edition)
der graue alte Leuchtturm in den fahlen Himmel.
57
Rickard stand im Kücheneingang und lauschte. Er lauschte so, wie er seine Eltern als Kind immer belauscht hatte. Unzählige Male hatte er sich hinter einer Ecke versteckt und auf ihre Stimmen gehorcht, die lauter und leiser wurden, mal murmelten und mal explodierten. Es war nie Absicht gewesen, sondern immer eher zufällig wie jetzt. Völlig erfüllt von dem Gedanken an seine Eltern und dem Wunsch, mit ihnen zusammen zu sein, wollte er zu ihnen laufen, nahm dann aber plötzlich ein Wort oder einen Tonfall wahr, der ihn bremste. Er wusste nicht genau, was, aber irgendetwas hielt ihn davon ab weiterzugehen.
Er hatte so oft gelauscht, dass er wusste, wann Mama das Falsche sagte. Warum sie das tat, konnte er nicht verstehen. Wenn er es schon merkte, musste sie es doch erst recht begreifen. Sagte sie absichtlich das Falsche? Es wäre doch so einfach gewesen, das nicht zu tun. Er wusste so genau, was sie nicht sagen durfte, dass er ihr hätte soufflieren können. Er wusste, wann sie noch die Kurve kriegen konnte und wann es egal war, was sie sagte. Dann hatte sie die unsichtbare Grenze überschritten, und das konnte nur noch auf eine Art enden. Wenn es so weit gekommen war, blieb er nicht länger dort stehen, sondern schlich sich leise zurück in sein Zimmer.
Warum tat sie das? Alles hätte so viel besser sein können, wenn sie nur nicht so viel falsch gemacht hätte. Papa wäre froh gewesen. Es hätte ihnen allen das Leben erleichtert. Aber vor allem ihr selbst. Warum sagte sie immer das Falsche?
Diesmal hatte ihn etwas anderes innehalten lassen. Kein schräger Tonfall und kein verbotenes Wort, sondern ihre Stimme.
Weil auf sein lautes Klingeln niemand die Tür aufgemacht hatte, hatte er das Garagentor aufgeschlossen und sein Fahrrad in die Garage geschoben. Er wollte sich ein Bier aus dem Kühlschrank nehmen. Da sein Vater wieder zu Hause war, müsste es doch Bier geben, dachte er, aber da war keines. Entweder hatte er noch keine Zeit zum Einkaufen gehabt, oder er hatte in Tokio seine Gewohnheiten geändert.
Rickard setzte sich an den Küchentisch und blätterte ungeduldig die Zeitung durch. Als er damit fertig war und sich immer noch niemand gezeigt hatte, ging er in die Garage, um das Rasenmähermesser auszutauschen. Das neue Messer hatte er schon in der vergangenen Woche gekauft, doch als er es hatte einbauen wollen, war ihm etwas dazwischengekommen.
Da er das Messer nicht gleich finden konnte, nahm er zunächst an, sein Vater hätte es bereits ausgewechselt, aber dann sah er es in der Originalverpackung an einem Haken an der Wand hängen.
In dem Moment hörte er die Wagen in der Einfahrt. Zwei Autos gleich hintereinander. Das war seltsam. Er nahm wahr, wie sie ausstiegen und zur Haustür gingen. Er streckte den Kopf durch die Küchentür und rief ihnen durch die Waschküche etwas zu, als sie ins Haus kamen. Doch die Stimme ließ ihn innehalten. Das war nicht die Stimme seines Vaters. Das war jemand anderes.
Nun stand er in der Waschküche und lauschte den aufgebrachten Stimmen, die immer wieder so gedämpft klangen, dass er nur einzelne Worte verstehen konnte. Er stand mit gesenktem Kopf da, heftete den Blick auf die großen Terrakottafliesen und konzentrierte sich voll auf die Stimmen.
»Was hätte ich denn machen sollen?« Die Stimme seiner Mutter klang unsicher und verändert.
»Du kannst nicht …«
Der Fremde war verärgert und brachte den Satz nicht zu Ende. Es hörte sich an, als würde er die restlichen Worte verschlucken.
»Wir dürfen uns nicht sehen«, fuhr er entschlossen fort. »Nicht jetzt. Wir werden irgendwann zusammen sein, aber nicht jetzt.«
»Aber …«
»Du musst dir ein neues Handy mit einer anderen Prepaidkarte kaufen.«
Die Stimme klang extrem kontrolliert, so als könnte der Sprecher jeden Moment die Beherrschung verlieren.
»Werden sie uns nicht ohnehin früher oder später auf die Schliche kommen? Ich meine, dass wir zusammen sind?«, fragte seine Mutter.
Sie klang so hilflos und verwirrt, wie Ricky sie noch nie erlebt hatte.
»Das wird dauern. Wir brauchen ihnen ja nicht auf die Sprünge zu helfen. Du und ich, wir schaffen das.«
»Und wenn sie fragen? Irgendwann werden sie hierherkommen und fragen. Dann kann ich doch nicht lügen.«
Ricky hörte, wie sie nach einem Rettungsanker suchte … Er starrte an die Wand, sah seine Mutter vor sich und versuchte, sich den anderen vorzustellen.
»Das wird noch dauern.
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