Gotland: Kriminalroman (German Edition)
Hand nach dem Autoschlüssel aus.
»Bist du nicht müde?«
Er war seit vierundzwanzig Stunden unterwegs.
»Kein Problem. Ich fahre.«
Sie fingerte nach dem Schlüsselbund in ihrer Handtasche.
Nun saß er hinter dem Steuer des Wagens, den sie inzwischen als ihr Eigentum betrachtete.
Sie waren die eintönige Straße durch den Wald zwischen Klinte und Levide entlanggefahren, Richtung Gerum abgebogen und hatten jetzt nur noch das letzte Stück bis zum Hof vor sich, dann waren sie zu Hause.
»Scheiße, Emrik. Wie alt will der denn noch werden?«
Kristina hatte nicht einmal bemerkt, dass sie an ihrem ehemaligen Lehrer mit dem weißen Bart vorbeigefahren waren, ihre Gedanken gingen in eine andere Richtung. Außerdem war sie Emriks Anblick im Gegensatz zu Arvid gewöhnt.
»Er kann kaum noch laufen«, sagte sie abwesend.
Beim Ortsschild bog Arvid zum Gutshof in Levide ab. Kristinas rechte Hand lag auf dem Türgriff. Sie atmete Arvids Geruch ein. Sie roch zur Hälfte ihn und zur Hälfte etwas anderes, das war immer so, wenn er von einer Reise nach Hause kam. Es schien, als wäre dem Arvid, den sie kannte, etwas anderes hinzugefügt worden. Sie hatte schon so oft neben ihm im Auto gesessen und diesen Geruch wahrgenommen und diesen Gedanken gehabt. Das hatte sie gleichzeitig mit einer schweren Sehnsucht erfüllt, die alle Überlegungen hinwegfegte, die sie mit sich herumgeschleppt hatte. Hatte es jemals Zweifel gegeben, so waren sie spätestens in diesem Moment verdunstet wie Tau an einem sonnigen Julimorgen. Sie konnte an nichts anderes denken als an seine Arme, die sich zum ersten Mal seit Tagen, Wochen oder Monaten wieder um sie legen würden. Seine Hände auf ihrem nackten Körper, lüsterne, fordernde Finger, der steife Schwanz an ihrem Bauch.
Er hustete ein paarmal und fuhr in die Einfahrt vor dem großen Haus.
Doch diesmal empfand sie nichts dergleichen. Sie atmete ein und nahm nur den Geruch von Alkohol und abgestandenem Flughafenatem wahr. Einen Hauch Schweiß.
Was roch er? Hatte sich ihr Duft auch verändert? Witterte er etwas?
Arvid stellte den Wagen auf der asphaltierten Garageneinfahrt ab. Er stieg aus und wollte die Taschen aus dem Kofferraum holen, doch als er die Haube halb angehoben hatte, hielt er inne.
Irgendetwas war anders.
Er warf einen Blick auf den Garten vor dem weißen Haus. Er hatte fast das Gefühl, in der falschen Auffahrt geparkt zu haben, dabei war das ganz offensichtlich sein Zuhause. Er war richtig hier, aber es fühlte sich falsch an. Lag es daran, dass die Bäume und Büsche während seiner Abwesenheit gewachsen waren? Oder war er so lange fort gewesen, dass ihm sein eigenes Haus fremd geworden war?
»Was sagst du dazu?«
Kristina. Ihre Stimme kam kaum an ihn heran.
Irgendetwas war anders.
Als er es herausfand, wunderte er sich, dass es ihm nicht sofort aufgefallen war. Parallel zum Haus verlief ein gepflasterter Weg von der Garageneinfahrt zur Eingangstür. Zwischen Weg und Einfahrt wuchs ein Meer aus purpurroten Blumen, dicht wie ein Teppich.
»Was sagst du?«
Wieder Kristina. Diesmal hörte er sie. Erwartungsvoll.
»Ja …«
Er sah sie an, kam aber ins Stocken. Aus irgendeinem Grund bekam er die Worte nicht heraus. Das zarte Lächeln wurde starr und erstarb.
Er wendete sich dem Weg und den Blumen zu. Vorher war da ein Kiesweg gewesen. Er war genau an der Stelle, wo ihn nun die Blumen in dem frisch angelegten Beet zornig rot anleuchteten, schräg über den Rasen verlaufen.
»Das sind Dahlien.«
Aber irgendetwas an ihrer Stimme war jetzt anders.
Sie klang zögerlicher.
»Was ist das hier?« Er starrte die Blumen an.
Sie fingerte an den Knöpfen ihrer Bluse.
»Ich dachte, es könnte eine nette Veränderung sein.«
Ihr Blick klammerte sich an ihn und wollte ihn mit Begeisterung anstecken, aber das schwache Lächeln bat bereits um Entschuldigung.
»Veränderung?«
»Ja?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ja, ja«, sagte er und holte die Taschen aus dem Kofferraum.
Er machte ein paar Schritte auf den gepflasterten Weg zu, blieb dann aber ganz plötzlich stehen. Einige Sekunden lang stand er reglos da. Dann folgte er einem überwältigenden Impuls und ging schräg über den Rasen auf die Eingangstür zu, als wäre der alte Kiesweg noch vorhanden. Von einer Mischung aus quälendem Unbehagen und Wut erfüllt, steuerte er seine schweren, entschlossenen, aber nicht übertrieben langen Schritte durch das Beet. Seine blank polierten, schwarzen Schuhe in Größe
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