Gotland: Kriminalroman (German Edition)
siebenundvierzig zermalmten Stängel und rote Blütenblätter.
ZWEITER TEIL
O Gertrud, Gertrud, wenn die Leiden kommen,
so kommen sie wie einzelne Späher nicht,
Nein, in Geschwadern.
WILLIAM SHAKESPEARE
Samstag, 28. Oktober,
Karolinska-Krankenhaus, Solna
Der Mann im weißen Kittel beugte sich über Fredrik Broman und bat ihn, seinen Namen zu sagen. Fredrik öffnete die trockenen Lippen, um ihm zu antworten. Er füllte die Lungen mit Luft und spannte das Zwerchfell an, um den Luftstrom durch einen angemessenen Spalt zwischen den Stimmbändern zu pressen. Er formte die Lippen. Aber kein Laut drang nach außen. Nicht, dass es ihm nicht gelungen wäre, all diese Bewegungen zu koordinieren. Seine Muskeln hatte er unter Kontrolle. Er war weder entkräftet noch benommen. Er schwieg, weil er es einfach nicht wusste.
Er wusste nicht, wie er hieß.
Doch das war nicht die ganze Wahrheit. Er hörte die Worte nicht, aber er sah sie vor sich, nicht als Buchstaben, sondern wie eine Form, die vollkommen selbstverständlich war und ganz nahe lag, gleichzeitig aber unmöglich in Laute übersetzt werden konnte.
Plötzlich musste er an Gösta Bohman denken, den alten Parteichef der Moderaten. Weshalb? Er war sich sicher, dass er nicht Gösta Bohman war. Der war schließlich tot. Hieß er Gösta? Oder vielleicht Bohman?
Er musste etwas sagen. Musste zum Ausdruck bringen, dass er hier drinnen anwesend war, auch wenn es ihm nicht gelang, diese selbstverständlichen Formen in angemessene Laute zu verwandeln. Er musste zeigen, dass er noch da war.
Ein Schwindelgefühl durchfuhr ihn, als ihm eine Phantasie durch den Kopf ging: Die Ärzte könnten die Schlussfolgerung ziehen, dass hier nichts mehr zu machen war, und ihn in einen Verschlag in einem Pflegeheim verlegen, wo er nach kurzer Zeit in Vergessenheit geriet.
Ein neuer Versuch. Egal, was. Zwerchfell, Stimmbänder, Lippen.
»Bohman?«, sagte er etwas zittrig.
Der Arzt lächelte ihn an und wendete sich dann einer Frau mit langen rotbraunen Haaren zu. Seiner Frau.
»Wir machen Fortschritte.«
7
Das Gut von Traneus lag in Levide, genau auf der Grenze von Levide und der Gemeinde Gerum, mitten zwischen Hemse und Klintehamn im südlichen Gotland. Während die meisten Höfe dicht beieinanderlagen, stand der von Traneus ganz für sich auf einem Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche und war von Wald umgeben.
Das Haupthaus bestand aus zwei Teilen. Einer stammte aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und der andere von 1911. Das ältere Gebäude bildete den kleineren Flügel. Die Häuser waren weiß verputzt, und das Dach war mit orangeroten Ziegeln gedeckt, die durch das üppige Blätterdach einer hochgewachsenen Kastanie blitzten. Etwa sechzig Meter hinter dem Wohntrakt lagen ein großer Schuppen und ein älterer Stall, der ebenfalls 1911 erbaut worden war.
Amanda Wahlby öffnete die Küchentür und trat ein.
»Hallo?«, rief sie, aber verschwendete keine Zeit damit, auf die Antwort zu warten.
Sie streifte ihre Schuhe ab, stieg in die Gummischlappen, die sie in der Plastiktüte mitgebracht hatte, hängte ihre Jacke auf und tauschte auf der Toilette ihr enges rosafarbenes T-Shirt gegen ein weißes mit verblichenem Aufdruck, das um einiges lockerer saß.
Es war neun Uhr morgens an diesem ersten Freitag im Oktober. Der Himmel war mit einem leichten Dunst bedeckt, und die Sonne brachte in all dem Grau nur gelbe Schlieren zustande. Seit einem halben Jahr putzte Amanda bei Traneus, weil die bisherige Putzfrau wegen eines Knieproblems krankgeschrieben war.
Normalerweise klingelte sie zweimal. Wenn niemand öffnete, ging sie hinein, rief laut Hallo und legte los. Sie hatte auch einen eigenen Schlüssel, falls niemand zu Hause war, aber den hatte sie erst ein einziges Mal benutzt.
Auf dem Weg in die Küche rief sie noch einmal. Sie wuchtete den Staubsauger aus dem Putzschrank, holte zwei Lappen, Reinigungsmittel, Schrubber und Gummihandschuhe heraus, füllte einen roten Plastikeimer mit Wasser und fügte zwei reelle Spritzer Ajax hinzu.
Der Putzjob bei Traneus war in Ordnung, es gab nie viel aufzuräumen und eigentlich auch wenig sauber zu machen. Sie fragte sich, warum Kristina es nicht selbst tat. Es war ja nicht so, dass sie einen Beruf hätte, der ihre gesamte Zeit in Anspruch nähme … und da sie ohnehin nicht viel Dreck machte … aber andererseits war das nicht Amandas Problem. Sie war dankbar für den Job.
Sie nahm den Staubsauger in die eine Hand,
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