Gotland: Kriminalroman (German Edition)
Er saß allein an einem Tisch an der Glaswand und hatte ein zusammengeknülltes Eispapier vor sich liegen. Fredrik holte sich eine Tasse Kaffee und ging zu ihm. Ove, der völlig zusammengesunken dagesessen hatte, streckte sich ein wenig.
»Ich war bei Rickard Traneus und habe ihn vernommen«, sagte Fredrik.
»Hm.«
»Warum ist Arvid Traneus verschwunden, wenn er seine Frau und seinen Cousin nicht umgebracht hat?«
Ove starrte ihn an.
»Was?«
»Ich meine, falls er sie nicht umgebracht hat …«
»Ich hab schon verstanden, aber du bist auf dem Holzweg. Es gibt keine vernünftige Antwort auf diese Frage. Er muss der Mörder sein, sonst passt das Ganze nicht zusammen. Arvid Traneus hat die beiden umgebracht und sich dann aus dem Staub gemacht. Wie sollte das alles sonst zusammenhängen?«
Als Fredrik nicht antwortete, fuhr Ove fort.
»Mir ist übrigens noch eine andere Möglichkeit eingefallen. Er könnte sich das Leben genommen haben.«
Das Licht des hellen Nachmittagshimmel schien seitlich auf Oves Gesicht und machte die am Morgen gestutzten Bartstoppeln sichtbar.
Fredrik stützte das Kinn auf die geballte Faust.
»Das ist kein völlig abwegiges Szenario, da gebe ich dir recht, aber in diesem Fall hier … Ich kann mir Arvid Traneus nur schwer als den Typus vorstellen, der Selbstmord begeht. Außerdem müssten wir ihn dann irgendwo in der Nähe gefunden haben, oder nicht?«
»Er könnte ja erst abgehauen sein«, sagte Ove, »er hat die Fähre genommen und dann auf halber Strecke aufgegeben.«
»Du meinst, er könnte über Bord gesprungen sein?«, fragte Fredrik.
Ove nickte.
»Stell dir die Abendfähre vor. Es ist dunkel, an Deck bläst ein kräftiger Wind, niemand sieht ihn.«
»Nein«, sagte Fredrik, »dieser Mann gibt nicht auf. Der tut alles, um nicht als Verlierer dazustehen. Eher lebt er als Mönch in einem japanischen Bergkloster.«
»Als Mönch?«
»Okay, das wäre vielleicht nicht seine erste Wahl, aber wenn es sein müsste.«
Fredrik hielt nichts von der Selbstmordtheorie, musste aber zugeben, dass sie nicht ganz unwahrscheinlich war. Arvid Traneus hatte seine Frau, die Mutter seiner Kinder, umgebracht. Möglicherweise aus Versehen, aber ganz bestimmt ohne Vorsatz. Was blieb ihm da noch? Allem den Rücken zu kehren, nur um zu überleben? Ohne dass es ein Zurück gab? Andererseits war er lange nicht zu Hause gewesen. Vielleicht hatte er sich bereits irgendwo ein zweites Leben aufgebaut, das er einfach weiterleben konnte?
Fredrik wehrte sich gegen den Gedanken, Arvid Traneus könnte auf dem windigen Deck einer Ostseefähre über die Reling geklettert und mit einem dumpfen, vom Schiffsdiesel übertönten Klatschen in den Wellen verschwunden sein. Wenn es sich so verhielt, wären alle Anstrengungen der letzten Tage umsonst gewesen. Ihm und seinen Kollegen bliebe nichts anderes mehr zu tun, als die Überreste zusammenzukehren und ein Abschlussprotokoll zu verfassen.
»Falls er ins Wasser gesprungen ist, wird er hoffentlich irgendwo angeschwemmt«, sagte Fredrik.
»Oder dies ist auch nur eine falsche These«, erwiderte Ove.
Erst auf dem Weg zum Parkplatz war Fredrik eingefallen, dass das Auto noch in der Werkstatt stand. Zu spät, um sich eine Mitfahrgelegenheit zu besorgen, Gustav war bereits auf dem Heimweg.
Nun kam er aus dem McDonald’s und war nicht richtig satt, hatte aber einen eklig fettigen Nachgeschmack im Mund. Das Weinkellerbuch und zwei von Kristina Traneus’ Tagebüchern trug er in einer Konsum-Tüte.
Der Himmel lag dunkelblau über der Stadtmauer, und die mittelalterliche Stadt war seltsam still. Er konnte sich einfach nicht an die Stille im Winterhalbjahr gewöhnen, die sogar zur Rushhour herrschte. Es war eine Stimmung wie an einem Sonntag. Auf den Straßen waren nur wenige Menschen unterwegs. Die meisten genossen wahrscheinlich zu Hause ihren wohlverdienten Feierabend. Er fand das verständlich, aber an die Leere konnte er sich nicht gewöhnen. Langsam ging er zur Bushaltestelle. Rings um das gläserne Wartehäuschen standen ein paar halbwüchsige Jungs in völlig überdimensionierten Steppjacken mit passenden Caps und spuckten ununterbrochen auf den Boden.
Der Bus wurde fast voll. Fredrik zog das Kellerbuch aus der Tüte und versuchte zu lesen, doch die Leselampen waren entweder kaputt oder ausgeschaltet, und die Leuchtstoffröhre im Mittelgang war zu schwach, als dass er Arvids Handschrift hätte entziffern können. Er steckte das Notizbuch wieder weg und blickte
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