Gotland: Kriminalroman (German Edition)
der Tischkarte stand. In Anbetracht der Form des Glases schätzte Ricky nun, dass es Whisky gewesen war. Unter dem Tisch standen Rotweinflaschen, die mit aufs Boot sollten.
Draußen vor dem Fenster senkte sich allmählich der Sommerabend über die Landschaft. Das Licht der Leselampe auf dem Schreibtisch schuf einen Raum, in dem nur sie beide Platz hatten, und schloss die Umwelt aus.
Ricky saß neben dem Vater auf einem Stuhl. Als er noch ganz klein war, hatte er immer bei ihm auf dem Schoß gesessen. Der Vater zeigte ihm, wie man das Navigationsbesteck verwendete, und ließ Ricky die Strecke von Klintehamn bis zur Insel mit dem Zirkel vermessen. Als er groß genug war, erklärte er Ricky, wie man Zeit, Strecke oder Geschwindigkeit ausrechnen konnte, wenn man die beiden anderen Faktoren kannte.
Das waren wichtige Rituale, aber am wichtigsten war der Moment, wenn Papa mit dem Zeigefinger über die Seekarte glitt, auf der Insel haltmachte und sie endlich über die vielen gefährlichen Strapazen sprechen konnte, die sie auf sich hatten nehmen müssen, um sich bis hierhin durchzuschlagen. Er konnte sich an den Atem seines Vaters erinnern, der scharf nach Alkohol roch, und daran, wie seine eigenen seidigen blonden Haare an Papas Bartstoppeln hängen geblieben waren.
Doch irgendwann war Schluss damit. Nicht nur mit dem Ritual mit den Seekarten am Vorabend der Reise, dafür war er irgendwann zu groß geworden, hatte angefangen zu pubertieren und das Ganze wohl auch für ein bisschen albern gehalten, nein, auch die Segeltörns selbst fanden nicht mehr statt. Er wusste nicht mehr, wann und warum es so gekommen war. War sein Vater damals nach Japan gegangen? Vielleicht war die Segelsaison immer schon vorüber gewesen, wenn er zu Besuch kam?
In gewisser Weise entschwand er, nicht nur aus Raum und Zeit, sondern er zog sich in sich selbst zurück. Er kam nach Hause und kümmerte sich um gewisse Dinge, brachte manches wieder in Ordnung, kaufte ein und verteilte Geschenke. In kurzen Augenblicken sprudelte er über vor Plänen, von denen er mit leuchtenden Augen erzählte. Dann strahlte er vor Energie. Aber diese Momente verflogen schnell, und es kamen die Augenblicke, in denen man nicht an ihn herankam. Er war unnahbar. Dann fuhr er weg, stürzte sich wieder in seinen Auftrag und wurde von Japan verschlungen.
Die Konsum-Tüte mit dem schwarzen Kellerbuch und den Tagebüchern von Kristina Traneus war einige Tage liegen geblieben. Als Fredrik sich damit ins Wohnzimmer setzte, dachte er an die Sache im Weinkeller.
Er hätte das nicht tun sollen, aber er konnte es selbst jetzt nicht lassen, die Begegnung in Gedanken noch einmal zu durchleben, und all diese verrückten Gefühle waren plötzlich wieder da. Zugleich wusste er, dass er nur seine Zeit verschwendete, wenn er darüber nachdachte, es würde sowieso zu nichts führen.
Er legte die Tagebücher beiseite, schlug das Kellerbuch auf und spürte, wie der Staub und die Feuchtigkeit von Jahrzehnten aus den Seiten aufstiegen. Hastig blätterte er zwischen Weinen aus dem Bordeaux, der Bourgogne, dem Elsass und aus Italien – rotem aus dem Piemont und weißem aus Südtirol – hin und her. Viele Namen waren ihm noch von der Durchsuchung des Weinkellers in Erinnerung. Arvid hatte geradezu pedantisch jede Bewegung in diesem Keller vermerkt. Für jede entnommene Flasche gab es einen Eintrag, manchmal notierte er sogar den Anlass, zu dem die Flasche geöffnet worden war, wie beispielsweise den Geburtstag des Sohnes. In der rechten Spalte fand Fredrik noch mehrere Geburtstage, aber nicht den zwanzigsten der Tochter. Hieß das, dass sie nicht nach Gotland gekommen war, um mit ihrer Familie zu feiern, oder war Arvid Traneus nicht in Schweden gewesen? Der vierzigste Geburtstag von Kristina Traneus – sie war mitten im Sommer, am zweiten Juli, geboren – war stilvoll mit einer Flasche Beaujoulais gefeiert worden. Vielleicht hatte auch mal ein größeres Fest mit einfacheren Weinen stattgefunden, die nie im Keller gelandet waren und deshalb auch nicht in den Aufzeichnungen auftauchten?
Was erwartete er sich eigentlich von diesem Buch? Schmökerte er nicht im Grunde zu seinem eigenen Vergnügen im Kellerbuch von Arvid Traneus? Wenn er ganz ehrlich war, lief ihm bei all diesen Weinen, die er persönlich wohl nie würde kosten können, das Wasser im Munde zusammen. Er verhielt sich wie jemand, der über Atlanten gebeugt im Geiste um die Welt reist, während er im gemütlichen Sessel zu
Weitere Kostenlose Bücher