Gotland: Kriminalroman (German Edition)
geparkten Lastwagen gesehen, aber das war am helllichten Tag, und sie weiß auch nicht, wie lange er da gestanden hat. Sie ist nur vorbeigefahren. Allerdings ist sie sicher, dass es zwischen dem fünften und dem achten Oktober war«, sagte er ins Telefon.
»Sie hat keine Aufschrift gesehen?«
»Nein. Er hatte einen großen hellgelben oder beigen Aufbau. An mehr konnte sie sich nicht erinnern.«
Hastig blätterte Fredrik weiter.
»Sonst ist hier nicht viel«, sagte er.
»In einer Stunde läuft es im Lokalradio und in den Fernsehnachrichten. Mal sehen, was das bringt«, sagte Ove.
Fredrik klappte den Block zu und steckte ihn in die Jackeninnentasche.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Ove. »Das hier ist vielleicht die Antwort auf deine Frage.«
»Welche Frage?«
»Wo Arvid Traneus abgeblieben ist.«
»Du meinst, das könnte er sein?«
»Ja, die zerstückelte Leiche. Kopf und Füße fehlen. Arvid Traneus hatte Schuhgröße siebenundvierzig.«
Fredrik antwortete nicht sofort. Er sah auf den Hof hinaus, wo er soeben eine Zeugin vernommen hatte. Fünf schwarze Lämmchen grasten rings um eine abgestorbene und ergraute Eiche. Ganz oben an dem gekappten Stamm hatte jemand einen Nistkasten angebracht. Vor dem Haus war das Gras unter den Apfelbäumen rot vom Fallobst.
»Das würde alles verändern«, sagte Fredrik.
»Es mag abwegig erscheinen, aber wir haben eine Person, die seit vierzehn Tagen verschwunden ist«, fügte Ove hinzu.
»Was ja kein Wunder ist, wenn er seine Frau und ihren Liebhaber umgebracht hat.«
»Das könnte er ja trotzdem getan haben, auch wenn er hier verbuddelt wurde.«
»Ich kriege das alles nicht zusammen«, sagte Fredrik und legte die freie Hand aufs Lenkrad, »die Morde sind so total unterschiedlich.«
»Wir müssen den Gedanken trotzdem durchspielen. Es könnten völlig verschiedene Verbrechen gewesen sein. Das eine muss ja nicht mit dem anderen zusammenhängen«, sagte Ove.
Elin hatte ihre Sachen gepackt. Die Tatsache, dass sie immer noch hier war, konnte sie nur mit einer Art Handlungsunfähigkeit erklären. Es hatte nicht lang gedauert, die wenigen Kleidungsstücke, Make-up, Brieftasche und die Lehrbücher in die kleine Sporttasche zu tun, die sie sich anstelle der Prada-Tasche gekauft hatte. Sie wollte dieses dumme Designerding nie wieder benutzen. Aber eine Tasche zu packen war nur eine Geste. Schwieriger war, sich tatsächlich auf den Weg zu machen.
Als die Dunkelheit anbrach, verließ sie die Kraft.
Morgen, dachte sie, morgen muss ich hier weg.
Seit wie vielen Tagen dachte sie schon so?
Draußen war es dunkel. Im Nachbarhaus brannte Licht, aber sonst war alles schwarz. Sie verstand nicht, wie Ricky so leben konnte. Wenn man aus dem Fenster sah, wusste man noch nicht einmal, ob es dort wirklich etwas gab. Es hätte ebenso gut das große Nichts sein können.
Sie fragte sich, ob sie langsam paranoid wurde oder ob sich wieder eine Panikattacke ankündigte. Verwunderlich wäre es nicht gewesen. Was machte sie überhaupt hier? Warum blieb sie?
Ricky hatte aufgehört, sie um Verzeihung zu bitten. Sie selbst war vollständig verstummt. Sie bewegten sich im Haus aneinander vorbei und nebeneinander her, nahmen aber keine Notiz voneinander. Beide wussten nicht mehr, wie sie den anderen ansprechen sollten. Vielleicht blieb sie, weil sie wusste, dass sie erst von hier loskommen würde, wenn sie sich irgendwie versöhnt oder wenigstens dieses Schweigen gebrochen hatten. Aber wie?
Ricky hatte lange geschlafen und war dann oben in seinem Arbeitszimmer geblieben. Nun saß er seit einer halben Stunde zusammengesunken vor dem Fernseher. Seinem starren Blick nach zu urteilen, war die alberne Talkshow das Wichtigste auf der Welt, doch es brauchte keine psychologischen Kenntnisse, um zu wissen, dass er nur versuchte, die Zeit totzuschlagen. Es war kindisch, aber sie war ihm dankbar dafür. Sie selbst versteckte sich in der Küche hinter einer Zeitung, die sie nicht lesen wollte, hinter Geschirr, das längst abgewaschen, und hinter einem Glas, das längst ausgetrunken war. Allerdings konnte man es jederzeit wieder vollschenken.
Sie sollte wegfahren und aufhören, Rotwein in sich hineinzukippen, sollte nach Hause fahren und ihr Studium wieder aufnehmen, das seit zwei Wochen brachlag. Es war ohnehin dumm, den Anschluss zu verpassen. Wie oft hatte sie diesen Gedanken nun schon gedacht? Es war dumm, etwas zu verpassen. Ja, das war es. Morgen, wenn es hell wurde und ihre Kraft zurückkam, würde
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