Gotland: Kriminalroman (German Edition)
sie ihre gepackte Tasche nehmen und sich in den Bus setzen. Bis zur Haltesteller der Nummer 10 war es nur ein Kilometer. Sie musste Ricky noch nicht einmal fragen, ob er sie hinfuhr. Aber vielleicht würde sie genau das tun. Sie würde einen praktischen Gesprächsanlass wählen, ihn bitten, sie zum Bus zu bringen. Eine Minute im Auto und fünf bis zehn Minuten an der Haltestelle, bis der Bus kam. Mehr Zeit würden sie nicht haben, aber vielleicht würden sie auch nicht mehr brauchen.
Und dann versank sie wieder in sich selbst, und alles war nur noch finster und hoffnungslos. Plötzlich verspürte sie einen starken Schmerz im Bauch. Sie drückte mit der Hand dagegen und ging in die Hocke. Wann hatte sie zuletzt ihre Tage gehabt? Sie würde Ricky um eine Alvedon bitten. Oder ihn fragen, ob sie sich das Auto leihen durfte, um Binden zu kaufen. Und wenn sich daraus kein Gespräch ergab, würde sie wenigstens nicht mit einem Stoß Klopapier zwischen den Beinen im Bus nach Visby sitzen.
Sie stand auf und durchsuchte den Schrank, in dem normalerweise die Schmerztabletten waren. Um eine Tablette musste sie ihn nicht bitten, die konnte sie einfach nehmen. Sie fand eine Aspirin, löste sie in einem Glas Wasser auf und schluckte die bittere Flüssigkeit mit den weißen Flocken hinunter. Das Glas spülte sie sofort aus und stellte es in den Abtropfständer.
»Darf ich mir eine Weile das Auto ausleihen?«
Sie stand im Türrahmen. Ricky blickte eine Sekunde lang erst sie und dann die Haustür an.
»Klar, der Schlüssel liegt im Flur.« Seine Stimme klang so alltäglich und frei von jeglichem Unterton, wie sie nur klang, wenn er es unbedingt so wollte.
Sie fand den Schlüssel sofort.
Aus dem Fernseher dröhnte die Erkennungsmelodie der Nachrichten. Sie zog sich die Jacke über, hörte etwas über Angela Merkel und Sarkozy und dann über einen grausigen Fund auf Südgotland. Man hatte eine zerstückelte Leiche gefunden. Sie drehte sich zum Fernseher um und wurde unerbittlich vom Sofa angezogen, wo sie neben Ricky auf das Polster sank.
»Hast du das gehört?«, fragte sie.
»Ja.«
Sie mussten eine minutenlange Berichterstattung über den deutsch-französischen Gipfel durchstehen, bevor der Nachrichtensprecher wieder auf Gotland zu sprechen kam.
Laut Visbyer Polizei hatten in der Nähe von Etelhem Schweine Teile einer offenbar zerstückelten menschlichen Leiche ans Tageslicht befördert. Der Fernsehschirm zeigte Polizeifahrzeuge auf einem Feldweg und ein blau-weißes Absperrband vor einigen Bäumen. Es hätte überall sein können. Dann wurde ein Mann mit kurzen schwarzen Haaren gezeigt, der hinter einem länglichen Podium aus hellem Holz saß. Aus dem Text am unteren Bildrand ging hervor, dass es sich um den leitenden Ermittler Ove Gahnström handelte.
»Nein, wir haben den Toten noch nicht identifiziert. Bislang wissen wir, dass es sich um einen eher großen Mann mittleren Alters handelt«, antwortete der Kripobeamte auf eine Frage, die herausgeschnitten worden war.
»Gibt es einen Verdächtigen?«
»Solange wir die Leiche nicht identifiziert haben, verdächtigen wir auch niemanden.«
»Sie sagen, die Leiche sei zerstückelt worden. Erschwert das die Identifizierung.«
»Ja, unter anderem.«
»Haben Sie sämtliche Teile der Leiche gefunden?«
»Kein Kommentar.«
Der Bericht endete mit einer Aufforderung an die Bevölkerung, sich im Fall von besonderen Beobachtungen in diesem Gebiet sofort zu melden. Elin fröstelte. Die Nachricht erinnerte sie an ihre Mutter und den Wahnsinn, der sich in ihrem Elternhaus abgespielt hatte. Wahrscheinlich war auch dieses Ereignis im Fernsehen ausgebreitet worden, aber bislang hatte sie nicht darüber nachgedacht. Vor dem Fernseher zu sitzen wäre ihr an diesem Tag als Letztes eingefallen.
Mit wackligen Beinen stand sie auf. Sie sah Ricky an. Er blickte ihr hinterher.
»Wo willst du hin?«
»Einkaufen.«
Er antwortete nicht.
43
Am Donnerstagmorgen nahmen Eva Karlén und ihre Mitarbeiter die Untersuchung des Leichenfundortes wieder auf. Sie waren zu viert, Eva, Granholm und zwei Schutzpolizisten, die die beiden unterstützen sollten. Es war kälter geworden. Ein feuchter Dunst lag über der Landschaft, streifte die Baumspitzen und färbte die Zweige nass und dunkel.
Obwohl sie sich die ganze Zeit bewegten, kroch die Kälte ihnen in die Glieder, und nach einigen Stunden waren sie vollkommen durchgefroren. Während der Pause ließen sie den Motor von Evas Bus laufen und
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