Gott Braucht Dich Nicht
wär auf das Wasser gestiegen, ich hätte mich nicht umgewandt, ich wär auf dem Bauch durch die Menge gekrochen, nur sein Gewand zu berühren, ich wäre einem Stern gefolgt, ich hätte auf jeden beknackten Engel gehört, ich hätte das alles getan, ich wär bereit gewesen dazu, ich hab so gebetet, als hätt ich’s schon empfangen, worum ich bat, und ich hab es wirklich geglaubt, dass Gott ihn heilen kann. Und ER?
Sagt: Nein. Ach, nicht nur nein, sondern eher: Ich weiß auch nicht, mir ist grad nicht danach. Oder? Eigentlich sagt er gar nichts. Riesige schwarze Mauer, an der ich mir den Schädel einrennen kann, und von ihr splittert nicht einmal der Putz.
Auf einmal knallte die Kirchenorgel wie eine Ohrfeige in diese Gedanken. Die Köpfe der Menschen drehten sich um, meiner auch – und da stand im Türbogen, von der Frühlingssonne umglänzt, die Braut. Am Arm ihres Vaters. Und der strahlte und war stolz und bewegt und glücklich vor Liebe und was Väter da auch immer alles empfinden und auf ihren Gesichtern sich bewegen lassen, wenn sie ihre Töchter zum Altar führen. Ich weiß es nicht. Zwei Schritte machten sie, und sie lächelte glücklich nach vorn, den Menschen entgegen – und ihr Vater sah sie dabei von der Seite an, und noch einen Schritt, und ich sah seine Augen glänzen, und der Clown bot mir seinen Arm. Und darum habe ich das Einzige getan, was ich konnte. Anstatt sich bei einem Tässchen Tee über eine mögliche oder unmögliche Geschäftsleitung zu unterhalten, anstatt für den Rest meines Lebens über den Grund des Leides zu philosophieren, anstatt jedem nächstbesten Gläubigen vorzuwerfen «Ach ja, und wo war Gott dann, als mein Vater starb?», bin ich aufgestanden, hab dem Clown in die Haare gegriffen, ihn daran zu Boden gerissen und zum hinteren Vorhang der Bühne geschleift.
Die Braut schritt mit ihrem Vater an uns vorbei, meine Mutter legte ihre Hand auf meine, zog sie aber nach kurzer Zeit wieder zurück. Ich weiß nicht, ob sie meinen Hass spürte, als ich nach vorne starrte. Gekichert und gegackert hat der Clown, während ich ihn zog, und sich lustig gemacht, meine Hände mit Küsschen übersät, sich mit ihnen verlobt und entlobt, sich für die Zärtlichkeit bedankt und grunzend seinen Kopf unter ihnen gewunden, «Wonne» gesagt und «Danke sehr – auf immer dein», und ich stand vor dem Vorhang und brüllte los. Im gleichen Moment die Braut vom Vater übergeben wurde. Und dann hab ich es dem Gott gesagt. Ins Dunkle hinein. Dass ich ihn hasse. Ich habe ihn so beschimpft, wie man jemanden beschimpft, dem man weh tun möchte, den man zutiefst verletzen will, noch mehr: den man dazu bringen will, sich zu wehren, zu regen, und wenn das nicht möglich ist – ihn umbringen. Das war kein pubertärer Hass auf Eltern. In dem Hass steckte meine ganze Existenz, mein ganzes Leben, meine ganze Welt … und Gott.
Ich habe ihm geschworen, dass ich nie wieder mit ihm sprechen werde, dass ich ihn den Rest meines Lebens hasse dafür.
Das Schlimme war ja, dass ich wusste, dass es ihn gab. Diese Gewissheit war ganz klar da, das gebot mir auch nach wie vor mein Intellekt. Also, was für ein Schwein ist das, das nicht mal meinen Glauben an seine Wunder will!!!
Ich habe ihm gesagt: «Ich glaube nicht mehr an dich. Du bist tot. Ich hasse dich.»
Und dann war wieder Stille.
8
Die Rehe kamen so nah ans Haus.
Eines Tages ging ich nach der Schule durch den Garten zur Terrasse und wunderte mich über die Holzstangen, die auf einmal vereinzelt aus den Beeten herausragten. Am oberen Ende der Stangen waren kleine Säckchen festgebunden. Beim Näherkommen sah ich, dass es alte Nylonstrumpfhosen waren, aus denen abgeschnittene Haare flatterten.
«Gegen die Viecher», sagte Mama, «vom Friseur. Angeblich wittern die den Menschengeruch.»
Es half nicht. Die Tiere kamen immer wieder und fraßen alles ab.
Mama sprach nicht über Gott. Sie litt zwar unter Papas Tod, aber sie war trotzdem von einem gewissen Glauben getragen. Sie hatte uns Kindern einmal, noch vor seiner Beerdigung, erzählt, dass sie an jenem Morgen, als sie an seinem Bett saß, gebetet habe: «Herr, wenn du es denn willst, wenn du ihn denn unbedingt bei dir haben willst, dann lass es gleich geschehen, damit er nicht mehr leiden muss.» Papa atmete tief ein, Mama sagte amen. Papa atmete aus und war tot. Sie sprach nicht von Gott, sie wurde von diesem Moment getragen, über den sie uns nie sagen konnte, wie er wirklich für sie war.
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