Gott Braucht Dich Nicht
anderen wölbten sich Decke und Kopfkissen. Die Tür zum Balkon stand offen, es blies viel kalte Luft durch das dunkle Zimmer, aber der Wind schaffte es nicht, diesen süßen, diesen feinen faulen Gestank zu nehmen. Ich lief ins Bad und wusch mir die Hände und das Gesicht mit Seife, putzte mir die Zähne. Ich wusste, warum Mama geheult hatte. Sie schlief in dieser Nacht in Johannes’ Zimmer.
Am nächsten Tag baute ich einen Teil der Schubladen aus Mamas und Papas Schrankwand aus. Der Gestank wurde stärker, und ich wickelte mir meinen Schal um Mund und Nase, zog ihn so straff, dass meine Nase vorne platt gedrückt wurde. Ich fand keine Taschenlampe im Haus, darum stöpselte ich eine Nachttischlampe an ein Verlängerungskabel und hielt sie in den Raum zwischen Schrank und Außenmauer.
In dem grellen Lichtkegel der Lampe tauchte zwischen Balken und Mauerwerk ein Mäusenest auf. Darin lagen sieben Mäuse. Die waren tot. Sie hatten wahrscheinlich die Glaswolle, die zur Isolierung der Hauswand hinter dem Schrank steckte, angefressen. Die gelben abgenagten Stückchen lagen um das Nest herum. Mit Küchenpapier in der Hand hob ich die kleinen, harten, kalten Körper heraus, und während ich die Treppe hinunterging, um sie in den Wald hinterm Garten zu schmeißen, dachte ich daran, dass ich genauso stinken würde irgendwann mal und so steif und kalt sein würde und etwas Ekelhaftes von mir ausgehen wird. Und wo ist man dann? Es muss doch irgendeine beschissene Hoffnung geben. Dachte ich. Man muss doch irgendwas ahnen können, auch ohne Gott. Und wenn nicht, dann muss man sich einfrieren lassen. Dann muss man alle Menschen, die man liebt, mit sich einfrieren lassen. Wenn man echt an die Wissenschaft glaubt, wie das so viele von sich behaupten, warum kaufen sich die Leute dann einen Golf? Warum nehmen die die Kohle nicht, um vorzusorgen, dass sie mit ihren Liebsten vielleicht noch mal weiterleben können? Und dann dachte ich kurz daran, dass unser Glaube an Gott uns davon abgehalten hatte, an so etwas überhaupt zu denken. Und dass es nun eh zu spät war. Papa war unter der Erde. Aber andere Menschen könnten es. Dachte ich. Die könnten dafür sorgen. Vielleicht ist uns allen dieses Leben viel weniger wichtig, als wir immer behaupten.
Ich gelangte an den Zaun. Drehte das Küchenpapier, in dem die Mäuse lagen, oben zusammen, holte aus und warf das Bündel so weit ich konnte in den Wald hinein. Dort plumpsten sie irgendwo hin. Meine Hand stank jetzt.
Das ist alles zu spät, dachte ich. Aber es wäre vernünftig gewesen. Das mit dem Einfrieren. Einzige Chance wäre das gewesen. Dachte ich. Dann über den kalten Rasen wieder zurück zum Haus. Vorbei an dem alten Kinderpool, dessen Rand im letzten Jahr, als Papa im Krankenhaus lag, mit dem Erdwall ins Becken gebrochen war. Hier war alles Schrott. Und dann wieder dieses Rumgefrage nach dem Sterben, das nichts anderes neben sich duldete. Wie nehmen die anderen Menschen das hin? Wie machen die das? Wie halten die das aus, wenn es keinen Himmel gibt? Warum sorgen die nicht irgendwie vor? Welche Antworten haben die?
Nasser kalter dunkler Rasen, Terrasse ohne Gartenmöbel, Terrassentür. Ist doch alles bescheuert hier. Frisst einem doch am Gehirn, dieses Leben mit Geist und Kultur und Tod. Unser Hund fing wie verrückt an zu bellen, als ich die Tür öffnen wollte, und fletschte seine alten Zähne.
«Geht’s noch?», sagte ich, als ich reinkam und er nicht aufhörte. Er stand vor mir und knurrte, ging langsam hinter mir her und bellte noch zweimal. Ich schnauzte ihn an, sein Gesicht entspannte sich, und er wedelte fröhlich mit dem Schwanz.
Fünf Minuten später biss meine Oma die Krankenschwester von der Sozialstation. Mitten in den Finger. Mama war gerade in die Küche gekommen, stand an der Spüle, als auf einmal diese junge Frau, die immer besonders lieb zu meiner Oma war, vom Treppenabsatz hinunterrief: «Frau Stallmann?» Meine Mutter trocknete sich die Hände ab und ging in den Flur. «Ja?» Sie sah nach oben. «Frau Stallmann», sagte die Schwester, die oben an der Treppe am Geländer lehnte und sich den Finger hielt. «Frau Stallmann, also», sie japste nach Luft, «Frau Stallmann, Ihre Mutter hat mich – die hat mich jetzt gebissen.»
Die Stimme der Schwester bebte. Sie war kurz davor zu weinen. Mama rief empört: «Wie bitte?» Ich war aus der Küche dazugekommen. «Was ist los?»
«Sie hat die Schwester Veronika gebissen», sagte Mama zu mir.
«Wer?»
«Oma.
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