Gott Braucht Dich Nicht
der Moment der größten Freiheit, die wir hatten, als wir das Urteil annahmen, und vielleicht gibt es darum keine Ausreden, keine Entschuldigung, wahrscheinlich waren wir wirklich frei, als wir «Ja» sagten, und darum ist es so schwer zu springen. Darum bindet es einen so.
Vielleicht ist das Überlebenwollen kein schlichter Trieb. Sondern ein Sollen, das wir gewollt haben. Ein kurzer Dialog mit Gott, den wir nicht zurücknehmen können – jedenfalls nicht auf die saubere Art und Weise.
2
Kein Blitz schlug ein in den Jahren nach Papas Tod. Keine Stimme groll im Donner. Keine heißen Kohlen, die mir die Zunge verbrannten, kein Christus, der mir im Traum begegnet ist, kein Meer, das sich teilte, keine Feuersäule und kein Flüstern im Wind. Kein Engelschor, kein Engel, nicht mein Name, von Gott gerufen. Nichts. Gott schwieg.
Und dieses Schweigen werde ich nie vergessen. Heute denke ich manchmal, dass in seinem Schweigen eine Macht liegt. Eine solche, die wir uns gar nicht vorstellen können.
Wenn ich an Omas Bett saß und von den Schränken angeglotzt wurde, wenn sich vor dem Fenster die Äste der Kastanie im Wind bogen, aber kein Rauschen durch das Glas in dieses Zimmer drang, wenn Omas Atem nur die Bestätigung davon wurde, dass hier nichts sonst war, und mir die Gegenstände, die Dinge, das Federbett und die Vorhänge, der Schreibtisch und meine Haut immer schwerer und dichter vorkamen, wenn dieses Glotzen von Nichts immer näher an mich heranrückte, dann musste es Gott auf seine Weise besiegt haben, damals. Ich jedenfalls war es nicht. Ich kämpfte nicht mehr. Ich hatte meinen Namen und damit die Wirklichkeit verloren, und ohne die gibt es keinen Kampf.
Und trotzdem hat es einen Sieg gegeben. Denn es mag still gewesen sein in jenen Zimmern, unerträglich still – Gott war stiller. In mir mag es in den Jahren nach dieser Nacht im Wald geschwiegen haben, jedenfalls erinnere ich mich für die Jahre danach nur an äußere Vorgänge, kaum an Innerlichkeit, es mag also in mir endgültig geschwiegen haben, es mag so gewesen sein, dass keine Frage mehr jammerte, kein Hass mehr flüsterte – Gott muss noch leiser gewesen sein als das. Seine Macht muss in der Stille liegen. Sein Schweigen scheint mir unerbittlich gegen das Schweigen der Welt. Seine Stille ist gnadenlos gegen den Tod. Sie bringt das Nichts zum Bersten. Sein Schlachtfeld kennt keinen Lärm, denn es ist immer das Schweigen, der Tod, die Gräber und das Nichts. Und wir haben ihn nicht mit Schwertern in die Unterwelt ziehen sehen und mit wehenden Fahnen und Geschrei, sondern mit geschlossenen Augen, bleichem Mund und ohne Herzschlag. Gott untergräbt die Stille. Es muss eine Macht darin liegen, die ich nicht verstehe.
3
Die Abendsonne schien durch die Vorhänge, und in der Kastanie vorm Haus trällerte eine Amsel ihr typisch verträumtes Larifari-Gezwitscher. Die Osternacht im Wald war etwa zwei Jahre her. Ich ging noch zur Schule. Ich lebte noch zu Hause mit meiner Mutter und meiner Großmutter. An jenem Abend saß ich an dem großen Krankenbett von Oma, hatte eine Hand durch das kleine Gitter gestreckt, das wir immer abends hochzogen, damit sie nicht rausfiel. Ich hatte schon längst alle Strophen von den alten Kinderliedern wieder drauf, weil ich sie ihr nun seit drei Jahren jeden Abend sang. Manchmal hob ihr dünnes Stimmchen mit an, und sie sang die zweite Stimme über meiner mit. Sie lebte dann auf. Sonst schlief sie meistens, brabbelte wirres, witziges Zeug, aber wenn man mit ihr sang, dann war sie da.
Ich hielt ihre Hand, wie jeden Abend. Die wackelte, wie jeden Abend, und kam dann irgendwann zur Ruhe. Seit fast einer Stunde hatte ich da schon gesessen, zwischendurch geschwiegen, ihr die Schnabeltasse an den Mund gesetzt, gewartet, bis ihr Husten nach einem Schluck Wasser aufhörte, wieder die Tasse angesetzt, wieder Husten, Mund abgewischt, Gebiss wieder zurechtgerückt, wieder Mund abgewischt.
Den Blick ließ ich zum hundertsten Mal im Zimmer schweifen. Es war das Kinderzimmer von Johannes. Mit einem kleinen Waschbecken, einem alten Bett in der Wand, dem Schreibtisch vor der blau-weiß gestreiften Tapete. Omas Krankenbett nahm die Hälfte des Raumes ein. Auf dem kleinen Nachttisch neben meinem Hocker lagen ein Desinfektionsmittel, ein Inhaliergerät, ein paar kleine grüne Spritzen in Plastikhüllen und ein paar Wegwerfhandschuhe. Oma hustete. Ich summte eine Melodie, und dann begann ich wieder richtig zu singen.
«Weißt du, wie viel
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