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Gott Braucht Dich Nicht

Gott Braucht Dich Nicht

Titel: Gott Braucht Dich Nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Maria Magnis
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dann nahm sie den Schlüssel, griff ihren Mantel und ging raus.
    Wir fuhren los.
    Osterfeuer vor der Kirche, keine Erinnerung. Einzug in die Kirche, keine Erinnerung, wie die Kerzen angezündet wurden, keine Erinnerung, aber Übelkeit und die schwankenden, verschwimmenden Fliesen auf dem Boden vor mir zwischen Kniebank und Sitz, das weiß ich. Und wie ich gegen diese Übelkeit ankämpfe und friere. Und wie ich denke, dass jetzt in diesem Moment Papas Todesstunde war und seine Freunde letztes Jahr alle an ihn gedacht haben, die zu dieser Stunde in der Messe waren. Ich knicke den Kopf nach hinten. Sauge Luft durch den offenen Mund. Kann den Weihrauch nicht ab, der würzig fremd auf meiner trockenen Zunge bleibt. Stehe mit der Gemeinde auf. Muss mich wieder setzen. Mama und Steffi zwei Sitze entfernt von mir, Johannes neben mir. Trauern die? Weiß ich nicht. Ich kann nicht mehr. Der Priester trägt Weiß und verschwimmt immer wieder.
    Ich wisch mir Schweiß von der Stirn.
    Die Gemeinde kniet sich hin. Ich nicht. Nicht aus Protest. Ich kann nicht, mein Kopf wird abwechselnd heiß und kalt und brennt. Ich stinke. Ich will nicht mehr. Vor einem Jahr lag ich im Hüsle im Bett in der Dachstube. Im weißen Nachthemd. Gegenüber von mir Steffi, auch in einem alten Nachthemd von Oma. Und dann Schritte, und ich höre die Stufen knarzen, zu früh, der Wecker hat noch nicht geklingelt. Draußen Schnee am Fenster. Diese Schritte kommen zu früh.
    In der Nacht hatte es angefangen zu schneien. Steffi und ich konnten nicht schlafen. Wir hatten in den Schnee gesehen bis fünf Uhr morgens. Da hatte Steffi am Fenster kniend gesagt: «Wenn Papa heut Nacht stirbt, weiß ich nicht, was ich mache.»
    Und ich habe gesagt: «Der stirbt aber nicht», und mein Gebet an den lieben Gott ging leise geflüstert «Bitte und danke», und wir haben zugehört, wie der Schnee immer dichter das Rauschen des Baches vorm Haus erstickte.
    Letztes Jahr.
    Diese Schritte kommen zu früh. Der Wecker hat noch nicht geklingelt. Und ich lasse die Augen geschlossen bei dem schweren Knarzen, das sich dem Zimmer nähert. Es klopft leise, und ich kneife die Augen fest zusammen und atme nicht weiter, während die Tür zaghaft aufgeht. Onkel Hansjörg.
    «Kinder», Onkel Hansjörg zu früh, «euer Vater … eure Mutter hat eben angerufen. Dass wir jetzt schon in die Klinik kommen sollen.» Er zögert, ich mach die Augen auf, seh ihn an. Ich mach sie wieder zu. «Sie hat gesagt, dass euer Vater doch … jetzt … schon gestorben ist.» Steffi schreit. Ich dreh mich zur Wand.
    Ich höre Steffis hohe eingequetschte Stimme. Immer leiser und feiner. Als zählte sie Herzschläge oder Tropfen. «Papa. Papa.»
    Ich stehe auf, gehe zu ihr ans Bett, schiebe mich unter ihre Decke und umarme sie und flüstere: «Wein nicht. Es stimmt nicht, Steffi. Das stimmt nicht. Wein nicht. Das stimmt gar nicht.»
    Sie schmeißt mich aus dem Bett. Ich stolper rückwärts über den Elektroofen. Mir fällt erschrocken Johannes ein. Wie geht es dem jetzt mit der Nachricht. Johannes darf das gar nicht wissen. Man muss ihm das bitte nicht sagen. Da soll nichts Schlimmes sein. Ich geh rüber in die Kammer, die Tür angelehnt. Er steht mitten im Raum, hat seinen Kopf gesenkt und schaut auf das Hemd in seinen Händen, zieht es aber nicht an. Ich berühre seine Hand und halte sie fest. Ohne die Augen zu heben, kommt er einen kleinen Schritt auf mich zu und legt seine Stirn auf meine Schulter. Ich flüstere: «Ich glaub das nicht.» Er schüttelt langsam den Kopf, fast tonlos: «Ich auch nicht.»
    Jetzt vor einem Jahr. Genau jetzt.
    Erst ein Jahr.
    Und ich kann nicht mehr.
    Wie viele Jahre braucht man?
    Die Nacht im Wald hat zwar recht – es ist egal. Aber das Funkelnde, das Glänzende an diesem Gefühl ist weg. Es ist egal, immer noch, aber ich lebe noch, obwohl es egal ist. Ich will nicht mehr.
    Die Glöckchen zur Wandlung klingeln, die weiße Hostie wird hochgehalten.
    Ich will brechen. Ich will mein Leben erbrechen. «Lass mich in Ruhe», sage ich zu mir selbst, fast bittend. Lass mich in Frieden, lass mich einfach, ich will mich nicht mehr.
    Und erlebe zum ersten Mal die Verzweiflung, dass man sich selbst nicht löschen kann. Dass man sich als Träger seines Lebens aushalten muss. Nur um sich zu ertragen. Dass man immer bei sich ist, sich nicht ablegen kann wie ein Gewand. Dass man seine Existenz ertragen muss. Dass sie eine Aufgabe ist, ungefragt bekommen.
    Das war die Konsequenz, als ich

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