Gott Braucht Dich Nicht
Sternlein stehen.» Das mochte sie. Das sang ich ihr jeden Abend.
Ich kam zu der Stelle, da es heißt: «Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet, kennt auch dich und hat dich lieb, kennt auch dich und hat dich lieb.»
Obwohl es zu den Liedern gehörte, die ich ihr täglich sang, war es an diesem Abend anders.
Als dämmerte etwas aus der Strophe heraus. Etwas möglicherweise Erkennbares.
Ich sang weiter. Aber ich war hellwach auf einmal.
«Weißt du, wie viel Mücklein schwirren in der heißen Sommerglut.»
Aufgeregt. Verwundert aufmerksam mit plötzlich gestrecktem Rücken saß ich da am Bett. Suchend, nach einem Anhaltspunkt. Das war ganz seltsam. Mein Hirn und mein Körper waren auf eine kleine Sensation fixiert, die ich selber gar nicht sah oder verorten konnte.
Ähnlich dem Gefühl, kurz bevor einem der Name eines Schauspielers, den man sucht, wieder einfällt. Noch nicht auf der Zunge liegend, sondern, ach irgendwo im hinteren Teil des Kopfes – vielleicht hilft es, die Augen zu schließen, man weiß genau, dass er da ist, man schaut ihn eigentlich fast schon an, man fischt nach ihm, aber kommt man ihm zu nahe, dann verdrängt ihn das Wasser wieder, so lange, bis man ihn schnappt.
Ich sang weiter, immer noch abgelenkt durch mein Rumgewühle, meine hohe aufgeregte Aufmerksamkeit, und obwohl Oma schon fast eingeschlafen war, stimmte sie nuschelnd mit ein. Wir kamen wieder zum Refrain: «Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet, kennt auch dich und hat dich lieb – Kendauchdich». Das war es. Ganz einfach. Kendauchdich. Das versetzte mir einen Schlag, und ich zog die Hand aus dem Gitter und hielt sie mir an den Mund. Mein Gesicht wurde heiß. Das war mein Wort. Das war mein Wort, das ich vergessen hatte.
Es heißt in dem Lied eigentlich «Kennt auch dich», aber so vernuschelt, wie Oma es sang, so fern meine Aufmerksamkeit davon war, so kam es nun auf einmal von weitem auf mich zu, nach achtzehn Jahren, oder wie lange war das fortgewesen? Als kleiner Punkt am Ende der Straße. Spinnst du?, will ich ihm zurufen.
Ich hatte nach dem Wort gesucht. Irgendwann mit fünfzehn oder so hatte ich meine Mutter mal gefragt, ob sie sich daran erinnern könne, ein Name vielleicht, «irgendwas mit tandauch? Kam das in einem Lied vor?». Aber Mama wusste nicht, was ich meinte. Ich hatte auch meine Geschwister gefragt, aber es fiel ihnen nicht ein.
Spinnst du, will ich rufen. Wie ein Kind, das gesucht wurde auf einem Jahrmarkt, und es schaut auf seinen Rock und dreht sich und hat nie Angst bekommen. Ihm hat nichts gefehlt all die Jahre. Spinnst du! Und es tanzt. Spinnst du! Und da schaut es auf. Erkennt mich. Und lächelt. Sein Name: Kendauchdich.
Mein Urwort. Wie Hunger, Durst, müde. Das war mehr, als «ich» zu sagen. Und «ich» ist für ein Kind schon großartig. Es ist vollkommen wahr.
Ich hatte nie verstanden, dass es ein ganzer Ausdruck aus mehreren Wörtern war, «kennt auch dich», das hatte ich als Kind so nie gehört. Ich hörte «kendauchdich», und das war sehr groß, das war sehr ernst, aber auch lieb, das war majestätisch wie die Alpen, aber viel freundlicher. Es ging voran, wenn ich einschlief, es war da im Dunkeln, hinter den geschlossenen Lidern, und ich konnte nicht verlorengehen, denn es blieb und erwartete mich, hier und da. Und all das tauchte auf einmal auf. Wie eines dieser Sauerstoffbläschen, die sich bei einer Pflanze unter Wasser als silberner Pelz am Stängel bilden, und eines löst sich auf einmal und steigt auf. So eilte es mir entgegen. Ich nahm die Hand vom Mund und legte sie auf Omas Stirn.
«Thomen Evle», flüsterte ich. Sie reagierte nicht. Ich nannte sie immer Thomen Evle, weil sie als Kind so genannt wurde. Ich beugte mich über sie, strich ihr über das weiße Haar. «Thomen Evle, ich hab mein Wort wiedergefunden.» Sie reagierte nicht.
«Kendauchdich», sagte ich in ihr Ohr. Sie schlief.
Ich ging die Treppe runter in die Küche, machte Licht und setzte mich auf die Eckbank an den Tisch. Kendauchdich, das war genauso wie dieser Moment am Meer als kleines Kind, als ich auf den warmen Steinen gesessen hatte – vor Gott. Wenn mich jemand damals als Kind an jenem Abend gefragt hätte «Was ist Kendauchdich?», dann hätte ich gesagt «Kendauchdich ist jetzt».
Draußen war es dunkel geworden. Die Amsel hatte aufgehört zu zwitschern. Ich zündete mir eine Kippe an und merkte: Es zieht vorbei. Ich hätte es mir auf ein
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