Gott Braucht Dich Nicht
Schild schreiben und hochhalten sollen. Das tat ich nicht. Ich zog an der Kippe, hörte die Glut knistern. Mein Spiegelbild in der Fensterscheibe: verschwommenes Gesicht, aufgestützter Arm, eingeknickte Hand und die kleine, aufsteigende, eilig wirbelnde Rauchsäule der Kippe. Dann war Kendauchdich vorbei.
4
An einem Morgen, einige Tage später, als sich die schwarzen Äste der Bäume wie Scherenschnitte gegen den Himmel abzuzeichnen begannen – da sah ich, dort stand ein Reh im Garten. Es fuhr mit der kleinen Schnauze sacht über ein Beet, strich durch die Blüten und fraß ungestört in der Dämmerung. Beim Öffnen der Terrassentür erwartete ich, dass es sofort abspringen würde. Aber es hob nur den Kopf und sah mich an.
Durch die Kronen der hohen Bäume, durch die schwerfälligen dicken Äste rauschte Wind.
Ich trat auf die Terrasse. Das Reh wandt sich ab und fraß weiter. Und als ich in die Hände klatschte, um es zu verscheuchen, da zuckte es kurz, der Schreck fuhr ihm in die schlanken Glieder, aber es blieb stehen.
«Ey!», rief ich, «hau ab!», und knallte die Terrassentür zu. Das Tier knickte nun leicht in den Beinen ein und sprang – ein, zwei Sprünge, verlangsamte das elegante Laufen, und noch während es ein paar Schritte tat, sah es sich wieder nach mir um, als hätte es sich getäuscht. In mir. Als sei es nicht sicher, dass ich da war.
Und ich glaube, dass das der Moment war, in dem ich nach mir gegriffen habe.
«Ich» – irgendwo zwischen den schizophrenen Beschreibungen, die ich über das Menschsein gelernt hatte.
Ich.
Weder absolut erfindbar noch absolut gebunden. Keine Ahnung, wo meine Freiheit lag, aber irgendwo tauchte ich auf.
Das Reh hatte sich wieder der Wiese zugewandt, um weiterzufressen.
Vielleicht können Menschen, denen die Welt zerhauen wurde, das besser nachempfinden. Das weiße Nichts um einen herum ist so beängstigend, wenn man sich selbst darin verliert. Aber was ich damals auf einmal verstand, woran ich mich festhielt, war, dass dieses Weiß von mir gesehen wurde. Es brauchte meine Augen dafür. Nichts sieht nichts.
«Ey», rief ich noch lauter. Das Reh reagierte nicht. Ich griff nach einem der angefressenen Tennisbälle, die unser Hund auf der Terrasse sammelte, und schleuderte ihn mit aller Wucht in die Richtung des Tieres. Der Ball prallte irgendwo vor dem Reh auf.
All die Jahre nach Papas Tod, in denen ich jeden Tag mehr davon ausgegangen war, dass es keine Wahrheit gibt, hatte ich nicht bemerkt, wie dieser Satz anschwoll und dick wurde, keuchend stolz und schwitzend, grunzend sich umsehend, weil er alle anderen Sätze vernichtete, jeden Menschen, mich selbst, jede Einsicht, jede Annahme kleinmachte und dabei kein einziges Mal in den Spiegel sah, um zu bemerken, dass er genauso unter dieses Dogma fallen würde. Wenn es keine Wahrheit gibt, dann ist es auch nicht wahr, dass es keine Wahrheit gibt. Aber ich bin! Das weiß ich, und «Ich» griff nach einem zweiten Ball und zielte direkt auf das Gesicht des Tieres. Kein Treffer, aber es sprang trotzdem zur Seite, tänzelte ohne Panik durch den Garten und verschwand dann hinten, dort, wo der Wald beginnt, zwischen den Tannen. Ich schwitzte.
«Wer bist du?»
«Esther.»
«Ach ja?»
«Ja.»
«Was soll das heißen?»
«Das soll heißen: Verpiss dich aus meiner Leitung.»
5
Kendauchdich war geschenkt. An diesem Morgen mit dem Reh, vier Jahre nach meinem Bruch mit Gott, habe ich danach gegriffen, und ich denke, dass darin der Anfang meines neuen Glaubens lag.
Denn wer beginnt, «Ich» zu sagen, der hat, ob er will oder nicht, ob er daran glaubt oder nicht, die unsichtbare Welt betreten. Der meint nicht allein seine DNA, nicht allein die kindliche Prägung, nicht das Lächeln, nicht die Augen, nicht die Haut, sondern das Dahinter, was geliebt werden kann, was durchdringt oder sich versteckt, was man ahnen kann. Der meint das bisschen Freiheit, das der Mensch vielleicht hat, was uns ermöglicht, einen Namen zu tragen und keine Nummer.
Wer beginnt, «Ich» zu sagen, der hat die unsichtbare Welt schon betreten, weil wir alle keine Beweise für uns haben. Weil wir uns alle still und heimlich darauf verlassen, wirklich zu sein. Weil wir im Respekt vor diesem unbeweisbaren Geheimnis unserer Existenz sogar von einer Würde sprechen. Sichtbar ist die nicht. Es ist eine Annahme. Ein Glaube.
Und selig sind die, die ihn unformuliert haben, die ihn besitzen, ohne es zu wissen, die ihn haben, obwohl sie in den
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