Gott Braucht Dich Nicht
wirklich glaubte, dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Damit lächelt man nicht mehr. Damit setzt man sich nicht in Talkshows. Damit will man keine Menschen bekehren. Damit kann man Menschen nicht aufklären, mit diesem Satz: «Nach dem Tod ist Schluss» – der ist einem dann nämlich auch egal.
18
«Wer bist du?»
«Esther.»
«Ach ja?»
«Ja.»
«Was soll das heißen?»
«Ich.»
«Nun, nun. Wer ist denn ich?»
«Ich. Ein Mensch. Ich. Esther.»
«Ach ja? Was soll das sein?»
«ICH» kann man rufen und mit den Armen wedeln und winken, aufrecht gehen, das Kreuz durchdrücken, das Kinn anheben, sich an die Brust schlagen, Städte bauen und Opern schreiben, winken und winken und winken.
Ich gab dies Streiten auf.
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3. Teil
Schwarz wie Ebenholz
1
Das Unerträgliche sind vielleicht nicht die Lebensumstände, nicht die Sonnenaufgänge und -untergänge, nicht die Stunden dazwischen, die leisen Bewegungen in der Gardine in den Zimmern, in denen man eingeschlossen ist, das Unerträgliche ist vielleicht nicht, dass jemand einem was Nettes sagt, oder dass man sich schämt für die eigentliche Verhältnislosigkeit des eigenen Leidens im Vergleich zum offensichtlich schlimmeren Schicksal anderer Menschen, das Unerträgliche ist vielleicht nicht, dass es immer noch Menschen gibt, die einen lieben, und man keine Kraft hat, ihnen klarzumachen, dass das schwachsinnig ist, das Unerträgliche sind vielleicht nicht die Autos, die am Haus vorbeifahren, und das Gluckern der Heizung, die blaue Stunde am Abend, und die nächste Nacht und der nächste Morgen und der nächste Mittag und die nächste Bewegung in der Gardine, die Fliege am Fenster, das Unerträgliche ist wahrscheinlich, dass es kein Urteil gibt.
Dass der Hammer nicht fällt.
Darum sind die Uhrpendel in den Wanduhren so grauenhaft, darum ist das Ticken so schrecklich, nicht, weil es einen an den Verfall und die Vergänglichkeit erinnert, sondern weil es das Metronom der Gleichgültigkeit ist. Jede Sekunde – egal – gleicher Abstand. Es ist nur ein Takt, ohne Variation. Es ist ein Takt und nicht der Hammer, nach dem man sich sehnt, nicht der Startschuss zu einem Lauf, nicht der Böller, mit dem ein Schiff vom Stapel gelassen wird, nicht das Urteil, das zur Hinrichtung führt, nicht das Urteil, das einen freispricht – nein – nur ein Takt, ein ewiger Takt, der einen nicht erlösen kann und immer über den Nullpunkt hinwegfährt, und je länger man dem Metronom zuhört, je deutlicher es klingt, umso länger und leerer wird die Stelle in der Mitte, wenn es über null schwingt – es bleibt nicht stehen, es holpert nicht, und will man in den Sekunden der Null erschöpft die Augen schließen, dann weckt das Geräusch einen wieder, kurz und schnell, nur damit man weiß, es bleibt um null sehr streng – es gibt keine eindeutige Neigung, es zieht mich weder zum einen noch zum anderen, ich soll nur wissen, es bleibt um null, nichts gewinnt an Gewicht, aber geschlafen wird hier nicht – und darum glaube ich, dass der, der sich für den Sprung entscheidet, derjenige, der in die eine bestimmte grauenhafte Richtung kippt und sein Urteil fällt, wenigstens für kurze Zeit eine unglaubliche Befreiung aus diesem Takt erfährt, wenn der Hammer von oben auf den Tisch knallt, wenn der Mensch endlich kippen kann – und nicht mehr im Unentschieden bleiben muss.
Das ist unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Gericht. Vielleicht liegt darin die Sehnsucht nach Gott begründet. Nicht, dass er unsere Feinde richtet, sondern uns. Nicht erst im Himmel, sondern schon jetzt – jemand, der einen verteidigen kann und die Gewalt hat zu richten. Damit wir es nicht selbst machen müssen. Weil wir es gar nicht können. Es ist ausgeschlossen, wir tun es zwar andauernd, aber wir sind nicht gerecht und unsere Argumente sehr schwach.
Vielleicht liegt dort unsere Sehnsucht, denn jeder Mensch weiß um Urteile, weil er sie jeden Tag fällt, auch der, der ein Kind umbringt, fällt ein Urteil, ob gerecht oder ungerecht, ist egal, wir richten immer. Vielleicht weil das Leben so begonnen hat. Mit der Unterscheidung. Und mit dem Urteil, dass es gut war. Und mit dem Beginn des Daseins jedes Einzelnen von uns: du sollst. Es muss den Moment gegeben haben, in dem wir, die wir hier sind, dieses Urteil angenommen haben. Vielleicht hat es einmal ein «Ja» von uns gegeben, und vielleicht ist es darum so schwer, dieses Urteil einfach zurückzunehmen. Vielleicht war es
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