Gott geweiht
Infusionsbeutel tropfte eine klare Flüssigkeit in eine Kanüle, die an seinem linken Arm angebracht war. Zu seiner großen Erleichterung war sein rechter Arm frei. Lee räusperte sich und erschreckte damit eine Krankenschwester, die am Fußende seines Betts gerade sein Krankenblatt studierte. Sie ließ es los und sah ihn an. Ihre Augen waren honigfarben, nur eine Schattierung heller als ihr dunkelblondes, glattes Haar, das sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Sie war überaus jung, besaß ein spitzes Kinn und ein hübsches, herzförmiges Gesicht.
»Mr. Campbell, Sie sind ja wach.« Die Schwester musterte ihn, als ob das an Unmöglichkeit grenzen würde. »Wie fühlen Sie sich?«
»Lassen Sie mich mal überlegen. Ungefähr so, als hätte man mich erst überfahren, dann die Treppe hinuntergeworfen und schließlich als Sandsack missbraucht.« Lees Hals war so steif, dass er seinen Kopf nicht bewegen konnte, und sein ganzer Körper fühlte sich schwer und kraftlos an. »Bin ich hier in der Psychiatrie?«
Sie wirkte verwirrt. »Nein, natürlich nicht.«
Erleichtert atmete er auf. »Sehr gut. Was fehlt mir dann?«
Die junge Schwester senkte ihren Blick. »Das sollte Ihnen besser der Arzt erklären.«
»Okay, könnte ich ihn jetzt sprechen?«
Das ganze Gespräch nahm er nur durch einen Schleier wahr, als wäre er unter Wasser oder würde noch träumen. Die Krankenschwester schaute ihn traurig an und verließ das Zimmer. Ihr Gesichtsausdruck irritierte Lee – war er wirklich so krank, oder hatte er ihren Blick einfach nur falsch interpretiert? Er ließ sich wieder auf das leicht nach chemischer Reinigung riechende Bettzeug sinken und schloss die Augen. Gleich darauf träumte er, er würde im Hallenbad seiner alten Highschool schwimmen, wo es penetrant nach Chlor stank.
Als er seine Augen wieder aufschlug, stand Dr. Patel neben seinem Bett. Er trug noch immer das schiefe Namensschild am Kittel und wirkte unheimlich müde. Er hatte ein bekümmertes Basset-Hound-Gesicht mit traurigen Augen und sehr dunkle Haut.
»Wissen Sie, warum Sie hier sind, Mr. Campbell?«, fragte er. Seine Aussprache klang sehr britisch, sehr korrekt, verriet aber doch seine indische Abstammung.
»Bin ich krank?«
»Woran können Sie sich als Letztes erinnern?«
Lee überlegte, doch ihm fiel nur ein, wie er zu Hause gewesen war. Er hatte eine üble Nachricht erhalten, eine sehr üble Nachricht. Er erinnerte sich an Butts’ Stimme vor seiner Wohnungstür und daran, dass er im Wohnzimmer zusammengebrochen war.
»Eddie«, sagte er.
Dr. Patel sah ihn verdutzt an. »Eddie? Wer ist das?«
»Das kann ich Ihnen erklären«, sagte eine vertraute Stimme hinter Patel.
Nelson trat ans Bett. Er sah nicht gut aus, hatte blutunterlaufene Augen und wirkte schrecklich blass und erschöpft.
»Du hast uns ganz schön Angst eingejagt, Junge«, sagte er und beugte sich über das Bett. Alkoholgeruch drang aus jeder seiner Poren.
»Wer ist denn nun Eddie?«, fragte Dr. Patel leicht gereizt.
»Ein guter Freund von Mr. Campbell, der kürzlich gestorben ist«, antwortete Nelson.
Dr. Patel griff nach Lees Handgelenk, um seinen Puls zu messen.
»Sind Sie mein Arzt?«, fragte Lee.
»Ich bin Doktor Patel, Ihr Neurologe.«
»Neurologe?«
»Sie haben eine Infektion im Gehirn«, fuhr Dr. Patel fort. »Eine Weile stand es auf Messers Schneide, aber wir glauben, dass wir jetzt alles unter Kontrolle haben.«
Lees erste Reaktion war Erleichterung. Gott sei Dank keine Depression – mit einer Infektion wurde er fertig. Er sah Nelson an, wollte seinem Freund sagen, dass er sich beruhigen könne, dass das im Vergleich mit einer psychischen Krankheit ein Kinderspiel sei – doch er wusste nicht, wie er ihm das vermitteln sollte.
»Sie bekommen von uns mehrere Breitbandantibiotika«, fuhr der Arzt fort, »und bislang scheinen Sie gut darauf anzusprechen. Wie fühlen Sie sich?«
Als hätte jemand mit meinem Kopf Fußball gespielt , wollte Lee antworten, zuckte allerdings lediglich mit den Schultern.
»Gut.«
Nelson schnaubte. »Okay, wie fühlst du dich wirklich?«
»Nicht schlecht«, log Lee. Auch wenn sein Kopf brummte, er sich kraftlos fühlte und nicht klar denken konnte, war das lange nicht so schlimm wie die endlosen, erdrückenden Tage seiner Depression.
»Wie läuft’s mit den Ermittlungen? Was habe ich verpasst?«
»Gut, das reicht erst mal«, mischte Dr. Patel sich ein. »Sie dürfen sich nicht
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