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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.E. Lawrence
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das war es – ein Bär saß auf seiner Brust. Er wollte den Bären bitten, von ihm herunterzugehen, und bewegte seine Lippen, um die Worte zu formen, brachte aber keinen Laut heraus.
    Gesprächsfetzen drangen den Flur hinunter an sein Ohr: »… gute zahnärztliche Versorgung … sie ist ein nettes Mädel … soll ich dir was aus der Kantine mitbringen?«
    Einige der Bruchstücke von Unterhaltungen, die er aufschnappte, ergaben nicht viel Sinn. »… Anzahl der Juden in Madison, Wisconsin.« Er grübelte darüber nach, warum sich jemand über die Anzahl der Juden in Wisconsin unterhalten sollte.
    Dann konzentrierte er sich wieder auf den Bären. Der saß ganz ruhig auf ihm drauf, die Pfoten auf seine Schultern gestützt. Abgesehen davon, dass das Tier so schwer war, machte Lee das eigentlich nicht viel aus. Er wollte etwas zu dem Bären sagen, war jedoch weder in der Lage, die Lippen zu bewegen, noch, auch nur die Augen zu öffnen. Er konnte das Bärenfell riechen – ein feuchter, muffiger Geruch, wie verrottendes Holz und Sommerpilze –, und er spürte den warmen Atem des Tiers auf seiner Wange. Lee fühlte, dass der Bär ihm nichts Böses wollte, ja dass er ihn im Gegenteil sogar beschützte.
    Seine persönlichen Erfahrungen mit Bären waren minimal. Er hatte erst zweimal einen in freier Wildbahn gesehen, einmal durch so dichtes Gestrüpp hindurch, dass er kaum mehr als einen massigen, dunkelbraunen Umriss ausmachen konnte. Das andere Mal hatte ihn der Bär über einen Fluss hinweg direkt angestarrt. Lee erinnerte sich daran, dass er das Gefühl gehabt hatte, die Kreatur würde ihn mit beinahe menschlicher Intelligenz studieren – ihm in die Seele schauen –, tat den Gedanken aber als Phantasterei ab.
    Er wollte die Arme heben, um den Bären auf seiner Brust wegzustoßen, doch er konnte sie nicht bewegen. Dann versuchte er mit aller Kraft, seine Augen zu öffnen. Die Anstrengung war schier übermenschlich – irgendetwas zog ihn immer wieder zurück in die Bewusstlosigkeit. Als es ihm endlich gelang, seine Lider einen Spalt weit zu öffnen, konnte er nichts außer einem großen weißen Fleck erkennen. Der Fleck bewegte sich, und Lee wusste, dass das der Bär sein musste. Es überraschte ihn ein wenig, dass er weiß war – ein Eisbär vielleicht? Was machte der denn so weit südlich? Während er noch über diese Frage nachgrübelte, begann der Bär zu sprechen.
    »Wie fühlen Sie sich?«
    Die Stimme war tief und sonor, ganz wie man es von einem Bären erwarten würde. Außerdem hatte er einen britischen Akzent. Gab es Bären in England? Lee konzentrierte sich angestrengt, um seine Gedanken zu ordnen. Trotzdem brachte er statt einer verständlichen Antwort nur ein heiseres Krächzen zustande.
    Er setzte noch einmal an. Diesmal gehorchte ihm seine Stimme. »Mir geht es gut … danke.« Er kämpfte gegen den Lockruf des Schlafes an und schlug die Augen auf. Nun sah er den Bären klarer, und zu Lees Überraschung trug das Tier einen weißen Arztkittel. Am Revers des Kittels stand auf einem schief sitzenden blau-weißen Namensschild aus Plastik: Dr. Patel .
    »Freut mich, dass Sie wieder unter uns weilen«, sagte Dr. Patel.
    Noch immer verwirrt, schaute Lee sich suchend nach dem Bären um. Wohin war er verschwunden?
    »Mr. Campbell?«
    »Ja?«
    »Wissen Sie, wo Sie sind?«
    Lee antwortete nicht gleich. Er war zu beschäftigt damit, die auf ihn einstürzenden Eindrücke zu verarbeiten. Dann war also Dr. Patel der Bär. Oder besser gesagt, es gab gar keinen Bären; den hatte er sich nur eingebildet – aber warum? Eine Nebenwirkung der Medikamente vielleicht?
    »Was haben Sie mir gegeben?«, fragte er mit müder Stimme.
    »Ich gehe nachher gern Ihr Krankenblatt mit Ihnen durch«, erwiderte Dr. Patel. »Wissen Sie, wo Sie sind?«
    Lee sah sich im Zimmer um und stellte erstaunt fest, wie vertraut ihm alles war. Fahlgelbe Wände mit uralten Flecken und schief hängenden, billigen Reproduktionen unbekannter Gemälde.
    Er befand sich im St. Vincent’s – fragte sich jetzt nur noch, ob er wieder in der Psychiatrie gelandet war.
    Er blinzelte und versuchte, dem Arzt ins Gesicht zu sehen. »St. Vincent’s.«
    Dr. Patels Miene erhellte sich.
    »Gut«, sagte er wie ein Lehrer, der einen begabten Schüler lobte. »Sehr gut.«
    Lee war zufrieden mit sich und versank wieder in Bewusstlosigkeit.

    Als Lee aufwachte, herrschte draußen graues Zwielicht, und die Jalousien vor seinem Fenster waren halb geschlossen. Aus einem

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