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Gott geweiht

Gott geweiht

Titel: Gott geweiht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.E. Lawrence
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eine schlanke Blondine mit einem blassen kindlichen Gesicht.
    »Wollen Sie damit andeuten, dass es keinen Unterschied zwischen einem Serienmörder und einem großen Künstler gibt?« Ihre Stimme bebte, auch wenn Lee nicht zu sagen vermochte, ob vor Nervosität oder vor Zorn.
    »Ganz und gar nicht, Ms. Davenport«, erwiderte Nelson. »Ich sage nur, dass das, was beide antreibt, aus der gleichen Quelle stammt. Die Ausdrucksform könnte gegensätzlicher nicht sein.«
    Das blasse Gesicht der Studentin lief rot an, und ihre Stimme bebte noch mehr. »Dann ist es also alles nur eine Frage der Form ?«
    »Aber Form ist Inhalt, in einem sehr tiefgründigen Sinn. Denken Sie doch nur an die Nichtreduzierbarkeit eines Gedichts. Es ist wie bei der Trennung von Körper und Geist, welche die asiatische Medizin seit Jahrhunderten als falsch erkannt hat.«
    Er setzte sich wieder auf die Pultkante und verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Was den Unterschied zwischen einem Künstler und einem Verbrecher angeht, möchte ich behaupten, dass Van Gogh – der tatsächlich psychotisch war – oder Beethoven – der berühmt für seine Exzentrik und seine gemarterte Seele war – von Glück reden können, dass sie für ihre Dämonen einen Ausdruck gefunden haben, der gesellschaftlich akzeptabel war. Sie waren besser angepasst an ihre Umwelt als der durchschnittliche Kriminelle. Andererseits gibt es Menschen, die sowohl Kriminelle als auch begabte Künstler sind – wie der Dramatiker Jean Genet zum Beispiel.«
    Nelson erhob sich vom Pult und richtete sich zu seiner vollen Größe von einem Meter siebzig auf. »Der ignorierte Künstler oder Sohn oder Liebhaber kann auch zum Serientäter werden.« Er betätigte die Fernbedienung in seiner Hand, und das Dia der jungen Frau machte der Nahaufnahme eines lächelnden Ted Bundys Platz.
    »Die meisten von Ihnen werden diesen Mann wiedererkennen. Gut aussehend, intelligent und charmant, der Typ Mann, von dem Ihre Mutter hofft, dass Sie ihn einmal heiraten.« Lee war sich nicht sicher, glaubte aber, dass Nelson bei diesen Worten die Blondine ansah. »Und doch war er der Inbegriff jener Kreatur, die die Gesellschaft am meisten fürchtet – das Ungeheuer in unserer Mitte. Einige zutiefst antisoziale Persönlichkeiten wie Bundy lernen es, gesellschaftlich akzeptables Verhalten sehr, sehr gut zu imitieren – man könnte sogar sagen, sie geben sich als menschliche Wesen aus.«
    Nelson legte die Fernbedienung beiseite und baute sich vor seinem Publikum auf.
    »Aber er war ein menschliches Wesen, und unsere Aufgabe ist es, ihn zu verstehen, nicht bloß zu verurteilen. Das ist natürlich eine unendlich schwierigere und bestürzendere Aufgabe, aber es ist nun einmal der Beruf, den wir uns ausgesucht haben.«
    Ein dürrer junger Mann meldete sich. »Würden Sie sagen, dass Ted Bundy eine Ausgeburt des Bösen war?«
    »Das ist nur ein Etikett – für unsere Zwecke ohne jegliche Bedeutung. Überlassen Sie das den professionellen Philosophen und Theologen. Profiler und Psychologen haben es nicht nötig, diese Frage zu beantworten.«
    Der junge Mann setzte sich auf. Lee konnte sein Gesicht nicht sehen, aber er war schmächtig und blond und hatte eine dünne, heisere Stimme. »Glauben Sie, dass es so etwas wie das Böse überhaupt gibt?«
    Nelson strich sich mit der Hand durch sein welliges kastanienbraunes Haar. »Gerade bei den profundesten Fragen sollten wir uns niemals anmaßen, endgültige Antworten geben zu können. Zu lernen, in einem Zustand der Ungewissheit zu leben, ist eine der schwersten Aufgaben für uns als Mensch, doch auch eine der wichtigsten. Sobald wir das Gefühl haben, alle Antworten zu kennen, stirbt etwas in uns. Aber das müssen wir uns für eine andere Vorlesung aufheben«, fügte er mit einem Blick auf seine Uhr hinzu. »Wir sehen uns dann nächste Woche.«
    Als die ersten Studenten aufstanden und gingen, sah Lee noch einmal zu der Blondine hinüber. Er war sich nicht sicher, ob sie zu Nelsons Zirkel von Bewunderinnen gehörte oder nicht, doch während sie ihre Bücher zusammenklaubte und in ihren Rucksack steckte, schien es ihm, als ob sie dem Dozenten längere Blicke zuwarf. Sie war dann auch die Letzte, die den Hörsaal verließ. Als der Raum leer war, kam Nelson zu Lees Platz in der letzten Reihe hinaufgeschlendert.
    »Schau an, das ist ja wie in alten Zeiten. Bist du für einen Auffrischungskurs vorbeigekommen?«
    Lee lächelte. »Etwas in der Richtung.«
    »Wie wär’s mit

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