Gott wuerfelt doch 1
sprach er sehr ruhig weiter. „Man hat sie zum letzten Mal um
vierzehn Uhr fünfundzwanzig beim Überqueren einer Straße auf dem Weg zu einer
Klippenküste der Insel gesehen. Am Abend ist sie nicht ins Hotel zurückgekehrt.
Sie soll mit ein paar Leuten verabredet gewesen sein, die sie dort kennen
gelernt hat. Diese haben nach ihr gesucht, am Folgetag haben sie sich bei der
Polizei gemeldet. Die portugiesischen Behörden haben uns mitgeteilt, dass sie
später ihre Sachen auf dem Kopf einer Klippe auf der Halbinsel … äh …“, er sah
auf einen Zettel, den er aus der Tasche seiner Jacke fischte, „ … also … São
Lourenço gefunden haben. Von Ihrer Freundin jedoch entdeckte man keine Spur. Im
Wasser hat man zwar auch keine Hinweise erfasst, aber man kann ahnen, was
passiert ist. Die Strömung soll dort ziemlich stark sein ... Es tut uns
aufrichtig Leid …“
Ich hörte kaum noch
zu, was sie sagten. In meinem Körper tobten Schmerz und Entsetzen. Anna! Ich
taumelte zurück und fiel auf den Boden. Der jüngere der beiden Polizisten
wollte mir behilflich sein, doch ich war bereits alleine aufgestanden und
setzte mich in meinen Sessel. Die Männer begriffen meine Situation und schienen
geübt im Umgang damit; doch trotz ihres Verständnisses hatten sie etwas
Steriles an sich. Sie sahen mich mit Ruhe an und fragten, ob sie mir helfen
könnten. Nein, wimmerte ich, mir könne niemand helfen, wieso auch, es sei doch
jetzt alles vorbei. Ob sie jemand benachrichtigen könnten? Nein, ich wolle
alleine sein. Sie kündigten mir noch eine Vernehmung zu dem Fall an. Dann bat
ich die beiden zu gehen.
Wie lange ich so
saß, weiß ich nicht mehr. Ich fühlte mich leer und entwurzelt. Mit diesem
Ereignis hat die Verzweiflung Besitz von mir genommen und mich seitdem nicht
mehr richtig verlassen. Die Nachricht von Annas Verschwinden war der Anfang
einer Kette von Begebenheiten, die aufeinander folgten wie ein Tropfen Wasser
dem anderen, die gemeinsam irgendwann einen Tümpel formen, in dem schließlich
ein Mensch zu ertrinken droht.
Annas Eltern waren telefonisch
nicht zu erreichen, sooft ich es auch versuchte. Ich verstand nicht, warum das
so war; und meine Verwirrung war groß.
Tagelang wechselte
meine Verfassung, von Stunde zu Stunde. Ich habe geschrien und um mich
geschlagen - nein, sie durfte nicht tot sein! Ich habe geweint, ich habe das
Telefon läuten lassen und mit niemandem geredet, nicht mit Freunden, nicht mit
meinen Eltern. Dann ging ich, geschwächt und getrieben vom Hunger, zum ersten
Mal auf die Straße. Ich lief durch den Regen. Ich weiß nicht mehr, wie lange
ich rannte und was ich aß. Ich verfluchte Kafka und wollte nur die Seelenqualen
hinter mir lassen in dem tiefen Bewusstsein, dass mir das nicht gelingen würde.
Ich stellte jede
Aktivität ein. Meine Augen verweigerten das Sehen von Farben, ich nahm nur noch
Grau wahr. Meine Ohren verzerrten jede Musik, nur Lärm schien noch auf mein
Trommelfell zu treffen. Meine Zunge verabscheute jede Speise, nur noch Zwieback
und Kamillentee fanden ihren Weg durch meinen Schlund. Meine Eltern, die mittlerweile
in Aachen wohnten, wollten mich in ihre Wohnung holen. Sie wollten mir
beistehen und mich durch diese schwere Zeit schleusen, mir eine Brücke bauen,
zurück ins Leben. Meine Haut wehrte sich gegen jede Berührung, und selbst die
Umarmungen meiner Mutter waren für mich unerträglich.
Meine
Forschungsarbeiten musste ich einstellen, mein Professor hatte mich vom Projekt
freigestellt. Ich wurde auf unbestimmte Zeit wegen schwerer Depressionen
krankgeschrieben. Ich war willenlos und folgte der Einladung meiner Eltern wie
ferngesteuert, doch mein Kummer fraß sich weiter. Er war ein Teil von mir
geworden. Nach drei Wochen in Aachen hatte sich mein Zustand verschlechtert.
Anrufe von Freunden wies ich zurück, mit niemandem wollte ich sprechen. Nur mit
meinem Zwilling führte ich Gespräche - nicht mit Worten, sondern mit Gedanken.
Ich fragte ihn, warum es gerade Anna getroffen habe, ich wollte von ihm wissen,
was das Leben sei, gerade von ihm, dem toten Geschwister ohne Geschlecht und
ohne Gesicht, ohne Körper und ohne Blut. Dann wandelte sich die Verzweiflung in
Wut auf Anna: Wie konnte sie so etwas tun! Allein in Urlaub fahren, sich
Gefahren aussetzen, mich alleine lassen! Meine Mutter schob ich zur Seite, wenn
sie mich trösten wollte, meinem Vater begann ich aus dem Weg zu gehen. Dann kam
die Zeit, in der ich nur noch weinte.
Nach weiteren drei
Wochen ohne
Weitere Kostenlose Bücher