Gott wuerfelt doch 1
Prahlerei.
Als wir den
Rundgang beendet und den Dom wieder verlassen hatten, machte ich meinem Vater
ein Kompliment: „Du kennst Dich gut aus mit diesem Bauwerk.“
„Es ist wohl eine
der faszinierendsten Kirchen unserer Welt. Und von ihr sind große Einflüsse
ausgegangen. Hast du schon mal vom Castel del Monte gehört?“, fragte er mich.
Es war wieder eine seiner Testfragen die er so gerne stellte, seit ich ein Kind
war.
„Liegt das nicht in
Apulien?“, fragte ich.
„Ja, und ich nehme
an, du weißt auch, wer es hat erbauen lassen“, stellte er abwartend fest.
„Friedrich der
Zweite, der Staufer.“
„Gut!“, bestätigte
Vater, legte die Hände auf dem Rücken zusammen und schlenderte weiter. „Was
fällt dir in diesem Zusammenhang spontan auf?“
Ich überlegte kurz.
„Beide Gebäude sind achteckig, beide wurden von deutschen Kaisern gebaut.
Aber“, fügte ich hinzu, „es gibt einen Unterschied: Castel del Monte hat an
jeder der acht Ecken einen Turm.“
„Stimmt, aber woran
erinnert dich das? Du hast es heute schon gesehen.“
Ich ließ die Bilder
des Dombesuchs noch einmal vor meinem inneren Auge ablaufen. „An den
Kronleuchter?“
„Ja, genau, das ist
ein Geschenk des ersten Staufers an die Aachener, der Barbarossa-Kronleuchter.
Auch der trägt an den Ecken zusätzliche Türme. Barbarossa war der Großvater von
Friedrich dem Zweiten. Du siehst: Der Aachener Dom scheint also auch Friedrich
den Zweiten sehr beeindruckt zu haben. Castel del Monte ist mathematisch exakt
ausgeführt und astronomisch perfekt ausgerichtet; es scheint ein Spiel mit den
Zahlen gewesen zu sein. Man vermutet, Friedrich habe es selbst entworfen, denn
er war ein Mann, der über den Tellerrand des Abendlandes weit hinausgesehen
hat. Er war den Sarazenen und ihrer Mathematik sehr zugetan, bevor man im
Abendland überhaupt richtig wusste, was Rechnen ist. Das machte ihn zu einem
Mann, der seiner Zeit ebenso voraus gewesen sein mag wie dreihundertfünfzig
Jahre zuvor Karl der Große der seinen.“
In mir regte sich
Widerstand. „Ist die deutsche Geschichte nicht zu oft missbraucht worden, als
dass man sich auf sie berufen könnte und Vorbilder darin suchen sollte?“,
fragte ich insistierend.
„Ja, das ist sie
wohl“, stellte mein Vater fest und hob den Blick. „Ich würde auch keine
Vorbilder in ihr suchen. Ich glaube jedoch, dass es wichtig ist, die
historischen Zusammenhänge in ihrem jeweiligen Umfeld zu betrachten, um sie
wirklich verstehen zu können. Jede Zeit hat ihre eigenen psychologischen
Phänomene, und erst aus diesen Gesetzmäßigkeiten leiten sich für eine
Betrachtung die Folgen von gewissen Ereignissen ab, die heutzutage natürlich
ganz andere Konsequenzen haben würden; und darum werden solche Ereignisse der
Vergangenheit heutzutage eben auch zum großen Teil missverstanden.“
Wir gingen durch
die Aachener Innenstadt. Meiner Mutter war nach einer Tasse Kaffee und mir nach
einem Platz in der Sonne zumute. Wir kamen zurück auf den Markt, ließen uns in
die tiefen Korbsessel eines Straßencafés fallen, bestellten auf Anraten meines
Vaters reichlich Kaffee sowie mehrere Stücke eines Fladens, den man hier
„Kirsch auf Reis“ nenne und der für die belgisch-deutsche Grenzregion typisch
sei. Der Fladen schmeckte hinreißend gut, und Anna ließ sich das durch ein
anhaltendes Grummeln anmerken.
„Welche Aufgaben
hast du eigentlich in Zukunft als Institutsleiter?“, fragte Anna unvermutet.
Vater hielt beim Essen inne. Er war offensichtlich von dieser Frage
überrumpelt.
„Nun, hauptsächlich
administrative“, antwortete er zögerlich und fasste sich an sein knochiges
Kinn. „Ja, Wissenschaftsmanagement könnte man sagen.“
„Und wieso haben
sie gerade dich ausgesucht? Es gab doch sicher eine Menge Bewerber.“
Vater lachte über
diese Frage. „Oh ja, die gab es wohl. Fünfzehn ernst zu nehmende, alle viel
jünger als ich, berichtete man mir. Sie haben schließlich den genommen, der die
weisesten grauen Haare hat“, scherzte er und deutete auf seine silbernen
Schläfen. „Im Ernst: Ich hatte wohl die besten Voraussetzungen, weil ich mich
mein Leben lang mit der Alters- und Genforschung auseinandergesetzt habe.“
„Was hat denn das
eine mit dem anderen zu tun?“, erkundigte sich Anna kauend, während ein Luftzug
mit ihrem Rock spielte.
„Einiges, das man
kaum vermutet. Anna, du weißt, dass viele Leute der Genetik wenn nicht
ablehnend, so zumindest zweifelerfüllt gegenüber
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