Gott wuerfelt doch 1
ich
zurückgerissen wurde. Das Auto streifte mein Bein und zerriss meine Hose. Blut
tropfte auf die Straße und vermischte sich mit Regenwasser.
Es war meine Hand,
die mich anfasste, und es waren meine Augen, die mich jetzt ansahen. Ich sackte
zusammen, doch er hielt mich fest. Er stützte mich. „Komm“, sagte er ruhig und
mit meiner Stimme. „Lass uns gehen, bevor es hier einen Menschenauflauf gibt!“
Er schleppte mich in eine Seitenstraße, öffnete die Tür eines dunkelblauen
Opels, legte mich auf die Rückbank und setzte sich ans Steuer. Ohne ein
weiteres Wort fuhr er los. Ich hatte Schmerzen und betrachtete mein Bein. Eine
tiefe Fleischwunde in meiner Wade pochte mit jedem Herzschlag.
„Du siehst aus wie
ich“, stellte ich lapidar fest.
Er nickte, als gäbe
es nichts zu erklären. „Als ich dich sah, habe ich das auch gedacht, nur umgekehrt;
entschuldige, aber ich war ganz schön durcheinander.“
Ich nahm es, wie er
es sagte, sah ihn an wie ein Weltwunder, legte mich zurück, starrte zum
Wagendach und sank in tiefen Schlaf.
*
Wie lange wir
gefahren sind, weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem
Bett. Ich tastete nach meinem schmerzenden Bein und spürte, dass es verbunden
war. Ich richtete langsam meinen Oberkörper auf und sah ihn an einem Herd
stehen. Der Raum war mit dunklem Holz getäfelt, außer dem Bett waren ein Schrank,
ein Tisch und vier Stühle die einzige Möblierung. Er wandte sich um und
schenkte mir den Hauch eines Lächelns.
„Na, wie geht es
meinem Bruder Walter?“, fragte er seelenruhig. Ich erschrak. Ich hatte es wohl
erahnt, aber ausgesprochen nahm der Gedanke ungeheuerliche Kraft an. „Hab keine
Angst, ich werde dir alles erklären, wir haben viel Zeit.“ Er drehte sich
zurück zum Herd. „Ich habe dir eine Suppe gekocht, damit du wieder zu Kräften
kommst. Eine Minestrone, das ist doch deine Lieblingssuppe, habe ich Recht?“
Ich lag also meinem
Zwillingsbruder gegenüber und glaubte in einen Spiegel zu sehen. Sein Gesicht
sah genauso aus wie meines auf einem Foto.
„Ja, eine
Minestrone ist gut.“ Ich war völlig verunsichert. „Woher weißt du das?“
„Ich weiß es eben.
Und Parmesan habe ich auch, echten Reggiano, darauf legst du doch großen Wert.
Mein Name ist übrigens Konrad. Konrad Landes.“
Ich empfand
Widerwillen. Ein Mann, der aussah wie ich, der sich bewegte wie ich, der
dieselbe Frisur hatte wie ich und der dieselben Kleider trug. Und er benannte
sich sogar mit demselben Familiennamen.
Er kniete nieder
und sagte: „Ich werde mir dein Bein noch einmal ansehen müssen.“
Doch mein Bein war
nicht das, was mich wirklich kümmerte. Nein, da kniete ein Mann vor mir, und
ich wusste, dass er meine Gene besaß. Dachte er auch so wie ich? Fühlte er wie
ich? Hatte er dieselben Vorlieben und Abneigungen wie ich? Konnte er vielleicht
meine Gedanken lesen? Nein, wie absurd, dann wäre ja auch ich imstande, seine
lesen zu können. Mir gingen meine Forschungen durch den Kopf, und jetzt wurde
ich selbst zum Objekt meiner Thesen.
Konrad war dabei,
den Verband zu lösen. Ich wehrte ihn ab und zischte verbissen: „Lass mich!“
„Entschuldige
Walter, ich bin es nicht gewohnt, mich um meinen Bruder zu kümmern. Vielleicht
bin ich zu ungeschickt dabei?“ Er lächelte charmant, doch mir war nicht nach
Frohsinn zumute.
„Schon gut“, lenkte
ich ein, „aber ich kenne dich eben nicht. Und dein Aussehen ist eher
irritierend als Vertrauen erweckend.“
„Du wirst dich wohl
daran gewöhnen müssen, dass du einen Bruder hast, der dir zum Verwechseln
ähnlich sieht!“ Konrad grinste, und plötzlich blitzte Zuneigung in mir auf, die
ich allerdings gleich wieder bekämpfte. Doch die Sekunde der Vorstellung, einen
Bruder zu haben, einen Menschen, der war wie ich, der Worte sprach wie ich, der
dachte wie ich - diese Sekunde war eine Verlockung, die in ihrer Intensität im
Kampf gegen meine anhaltende Skepsis ein Remis erzwang. Und so ließ ich es zu,
dass sich Konrad an meinem Bein zu schaffen machte.
„Wo sind wir
eigentlich?“, erkundigte ich mich.
„In einem kleinen
Nest in der Eifel. Hier stört und findet uns niemand“, antwortete Konrad.
„Wieso soll uns
niemand finden? Wie meinst du das?“
„Es wäre nicht gut,
uns zusammen zu sehen. Daher habe ich vorgesorgt. Man wird uns nicht finden!“
Meine Skepsis und
Ablehnung waren wieder wach, und ich spürte, wie ich von Konrads Worten
bestimmt wurde. Und darüber wurde ich wütend.
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