Gott wuerfelt doch 1
Antwort und ohne Ansprache handelte mein Körper eigenständig. Ich
begann in den Garten zu gehen, den Vögeln beim Liebeswerben zu lauschen und die
Blumen beim Blühen zu beobachten. Es waren jeweils nur Momente, aber sie waren
für mich wie der Hofgang für einen Gefangenen. Doch jedes Mal führte der
Schmerz mich wieder in die Zelle meiner Seele zurück, in der mich die Trauer
eingesperrt hielt.
So verstrichen die
Wochen, bis die Zeit mir half, zu mir zurückzufinden. Manchmal versetzte sie
mir einen Stich, wenn sie mir das Trugbild von Anna in meinen Kopf projizierte:
Ich sah dann ihren Körper, ich hörte ihre Stimme, ich roch ihren Schweiß. Das
Lastende jedoch blieb der letzte Funken Ungewissheit, man hatte sie nie
gefunden. Doch irgendwann lernte ich, ihren Tod zu akzeptieren, ihren Körper
als verwest zu betrachten, ihre Stimme als verstummt zu verstehen, ihren Duft
als oxidiert hinzunehmen.
Trotz der Besserung
meines Zustands blieb ich verschlossen und zurückhaltend. Meine Gedanken wurden
zwar klarer, aber ich begann mich zu schämen. Warum hatte ich nicht nach ihr
gesucht? Warum war ich zusammengebrochen? Ich hasste meine Schwäche. Mutter
sprach zu mir mit Sanftmut und Geduld, und manchmal antwortete ich ihr. Ich
lernte allmählich wieder zu kommunizieren. Doch jedes Mal, wenn ich sprach,
kehrten die Tränen zurück, und wieder war es die Zeit, die mich lehrte, dass
man sie verstreichen lassen muss, damit sie helfen kann.
*
An einem warmen
Sommertag beschloss ich, wieder unter Menschen zu gehen. Es war der 2. Juli
1988, als es mich morgens in die Innenstadt zog. Ich teilte meiner Mutter mit,
ich wolle ab jetzt wieder normal essen und trinken. So begann ich den Tag mit
einem Kaffee und einem Brötchen, goldgelb und knusprig. Es schmeckte, und
Mutter lächelte.
Ich nahm den Bus in
die Stadt und ging zum Dom. In der Eingangshalle überlief mich ein Schauer;
zuletzt, als ich hier war, stand Anna neben mir. Es war die Erhabenheit dieses
Gebäudes, die ich nun suchen wollte - vielleicht konnte sie mir helfen, mich
neu zu orientieren und wieder zu festigen.
Ich betrat das
Oktogon und empfand zum ersten Mal seit Monaten Geborgenheit. Irgendwie schien
mir, als wäre ich nicht allein. Ich blickte in die hohe Kuppel hinauf, dorthin,
wo der goldene Leuchter des Barbarossa befestigt war. Und als mein Blick
hinüberschweifte zu dem großen Arkadenrundgang, sah ich ihn.
Ich war wie
erstarrt! Dort oben auf der Empore, halb hinter einer der dunklen Säulen
verborgen, stand ich! Ich wusste, mein Gesicht dort oben gesehen zu haben,
bevor es hinter der Säule verschwunden war. Augenblicklich funktionierte mein
Intellekt wieder. Dort war jemand, der aussah wie ich! Mein Herz begann zu
rasen. Rasche Schritte waren zu hören, doch ich stand wie angewurzelt, gefangen
zwischen den mächtigen Pfeilern und dem Himmel der Kuppel, nur mein Kopf folgte
den Geräuschen. Ich hörte Schritte auf den Stufen, die leiser wurden und
dumpfer, als sie vom Umbau der Wendeltreppe verschluckt wurden. Dann öffnete
sich das Gitter aus Schmiedeeisen. Unsere Blicke trafen sich für den Bruchteil
einer Sekunde. Es gab ihn! Er eilte überstürzt aus dem Portal. Bevor mich meine
Starre entließ und ich hinter ihm herlaufen konnte, war er verschwunden.
War mein Geist so
verwirrt und krank geworden, dass er mir jetzt sogar Blendwerke vorsetzte? War
der Schmerz um Anna so stark, dass er mich schon verrückt hatte werden lassen?
Nein, schrie ich in mich hinein, nein ich habe ihn gesehen! Es gibt ihn! Ganz
ohne Zweifel: Ich hatte einen Zwillingsbruder. Doch wenn dem so war, wer war
dann das Mädchen in dem Grab, das meine Mutter mehr als zwanzig Jahre lang
gepflegt hatte?
Völlig verwirrt
taumelte ich durch die Stadt. Mein Atem ging heftig, und mein Herz brannte. Der
Himmel hatte sich verschleiert und es nieselte, doch ich nahm den Regen nicht
wahr. Nur ein Gedanke beherrschte mich: ihn zu finden. Er, zu dem ich mein
Leben lang gesprochen hatte, hatte Gestalt angenommen - meine Gestalt.
Ich lief und lief,
bis ich außer Atem war. Meine Beine wurden schwer, und mein Kopf war
außerstande, sie zu lenken. Ich kam an eine Straße, die aus der Innenstadt
hinausführte. Autoreifen surrten auf Regenwasser. Ich setzte einen Fuß auf die
Straße und hörte das Quietschen von Bremsen. Dann sah ich das schnelle
Herannahen des Wagens und das Entsetzen im Gesicht der Frau hinter dem Steuer.
Ich spürte den harten Griff an meiner Schulter und den Ruck, als
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