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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Kreutzer
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stehen. Und das ist auch
teilweise begründet. Auf der anderen Seite steht fest, dass die moderne Medizin
ohne die Genforschung nicht auskommen kann. Ich habe mich seit den Anfängen als
Wissenschaftler mit dem Phänomen des Alterns beschäftigt. Die Frage, warum
Leben welkt und stirbt, ließ mich nicht los. Denn eigentlich besteht ja keine
dringende Notwendigkeit dazu, auch physiologisch nicht. Welche Prozesse aber
steuern das Altern?“
    Mutter kannte die
Einzelheiten seiner Darstellungen und warnte Vater durch einen Blick davor, endlose
Wortkaskaden über Anna zu ergießen. Er lächelte sanft und hörte schließlich
auf, aber Anna schien nicht ganz zufrieden mit seiner Antwort, denn sie war
gefangen von seiner Darstellung.
    Abends, als wir
nebeneinander in unseren Betten lagen, sprach Anna mich noch einmal darauf an.
    „Walter, ich hatte
das Gefühl, dass deine Mutter nicht wollte, dass er weiterspricht.“
    „Das kann ich mir
kaum vorstellen, warum sollte sie?“
    „Das kann ich dir
auch nicht sagen! Aber ich hatte das Gefühl,
als hätte ich in ein Wespennest gestochen, nur statt mich anzugreifen, zogen
sich die Wespen zurück. Das hat doch sicher einen Grund!“
    Mir war nicht wohl,
nachdem Anna diesen Satz ausgesprochen hatte. In meiner Kindheit hatte es aus
meiner Sicht in unserem Hause nie Geheimnisse gegeben, und ich kann mit Recht
behaupten, ein Elternpaar zu haben, das viel von Kindern und von Menschen
versteht.
    Heute kann ich
sagen: Es gab etwas, das mir vor lauter Harmonie nie auffallen wollte, als
hätte sich meine Seele dagegen gesträubt: Es gab so etwas wie ein Schweigen
über bestimmte Teile der Vergangenheit. Als solche hatte ich sie stets
verdrängt, diese Lücke in der Biographie meiner Eltern. Und jetzt, als Anna es
direkt ansprach, zuckten mir die fragenden Gedanken wie Blitze durch den Kopf.
In einem aber war ich mir sicher: Was es auch war, worüber die Eltern nicht
reden mochten, es konnte nichts Böses sein, es war etwas Trauriges, aber nichts
Schlechtes, nein, das konnte nicht sein!
    *
    Am Sonntag, dem 3.
Mai 1988, trieb das Schicksal mit geballter Kraft einen Dorn in mein Herz. Es
regnete in Strömen. Anna hatte sich eine Woche zuvor mit einem Kuss von mir
verabschiedet, bevor sie durch die Absperrung am Flughafen Köln ging und mir
ihr letztes Lächeln zuwarf.
    Sie hatte fast zwei
Monate lang ununterbrochen gearbeitet, um ihre Prüfung zu bestehen. Sie hatte
es geschafft! Drei Tage später kam sie ins Wohnzimmer und öffnete einen Brief.
Sie verzog ihr Gesicht und jubelte vor Freude: „Ich habe eine Reise gewonnen,
vierzehn Tage Madeira! Wahnsinn!“ Sie fiel mir um den Hals und küsste mich.
    „Hast du an einem
Preisausschreiben teilgenommen?“, fragte ich irritiert.
    „Nein“, antwortete
sie, „hier steht: Unter erfolgreichen Studenten verlosen wir jedes Jahr eine
Reise, dieses Jahr fiel das Los auf Sie!“ Als Absender war eine Reise-Agentur
angegeben mit einer Telefonnummer. Anna rief sofort an, und ihr wurde der
Gewinn der Reise bestätigt.
    Ich bedauerte, sie
ohne mich fahren lassen zu müssen, doch ich fand, sie sei sicher gut
aufgehoben; die Reise war organisiert, und außerdem: Anna war ein vollkommen
selbständiger und abenteuergeschulter Mensch.
    Anna hatte sich
kurz nach ihrer Ankunft telefonisch gemeldet. „Gar nicht so einfach“, hatte sie
gesagt, „in diesem Ziegendorf hier ein Telefon aufzutreiben. Es ist so schön
hier. Leider zu ruhig und kaum Tourismus.“ Sie versprach mir, sich irgendwann
wieder zu melden und küsste mich durch das Telefon.
    *
    Ich saß allein in
unserer Wohnung und las Franz Kafkas „Der Prozess“. Das Buch hatte mich in eine
düstere Welt versetzt, als die Klingel mich schrill in die Wirklichkeit
zurückholte. Ich legte das Buch zur Seite, stand auf und ging zur Tür. Als ich
sie öffnete, ahnte ich, dass mir die beiden Männer eine Nachricht überbrachten,
die mich erschüttern würde. Sie wiesen sich als Polizisten aus und fragten, ob
hier eine Frau Anna Gasser wohne und wer ich sei. Ich bestätigte ihre erste
Frage und stellte mich als Lebensgefährte von Anna vor. Sie fragten mich, ob
sie hereinkommen dürften. Ich machte eine offene Geste mit der Hand.
    Als ich die Tür
hinter ihnen schloss, sagte der etwas Ältere nach einer kurzen Pause: „Herr
Landes, ihre Freundin ist seit dem 30. April auf Madeira verschwunden.“ Sein
Blick lastete auf mir. Ich spürte den Schweiß auf meiner Stirn und starrte ihn
ungläubig an. Dann

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