Gott wuerfelt doch 1
Ich schlug gegen seine Hand, die
den aufgewickelten Mullverband hielt.
„Ich will aber
gefunden werden!“, rief ich. „Glaubst du im Ernst, ich will mit dir hier einen
Genesungsurlaub verbringen, du großer Samariter?“ Meine Lippen zitterten, und
meine Skepsis war auf dem Weg, sich in Angst zu wandeln.
Konrad hob in aller
Ruhe die Mullrolle vom Boden, sah mich an und sagte: „Du hast Angst vor mir,
stimmt’s? Aber vergiss nicht, dass ich dich gerettet habe! Du brauchst also
wirklich keine zu haben.“ Er richtete sich auf und sprach weiter: „Nicht, dass
ich das als großen Verdienst betrachte. Aber nimm es als Vertrauensvorschuss.“
Er hatte einen Stuhl herangezogen und sich neben das Bett gesetzt, auf dem ich
lag. Ich kam mir ausgeliefert vor, ausgeliefert meinem Zwilling, den ich nicht
kannte. Das machte mich wütend.
„Hör zu, Konrad,
oder wie immer du heißt! Ich will mit meinen Eltern sprechen. Sie ...“
„... mit unseren
Eltern!“, warf er bestimmt ein.
„... mit unseren
Eltern ...“ Ich seufzte. „Sie werden sich um mich sorgen. Ich war für ein paar
Monate die Mimose in der Familie, aber das schwarze Schaf bist ja wohl
eindeutig du!“, sagte ich verächtlich. „Also, wo ist das Telefon?“, fragte ich
barsch und spürte meine Verzweiflung angesichts der Albernheit, die in dem
billigen Versuch lag, ihn zu demütigen.
„Es gibt hier
keines, und wir werden auch keines brauchen“, gab er unerschüttert zurück.
„Walter, euer Telefon wird angezapft. Das deiner Eltern, das von dir. Seit
Jahren.“
Ich schluckte.
Meine Kehle wurde enger, meine Lungen verkrampften sich. Es war wie ein Knebel,
an dem ich würgte. Ich fasste ängstlich an meinen Hals. „Weiter!“, forderte ich
Konrad leise auf.
„Ich kenne jedes
der Worte, die du mit deiner Freundin gewechselt hast, ich kenne jedes
Gespräch, das du mit deinen Freunden geführt hast, ich weiß alles über unseren
Vater und unsere Mutter. Ich kenne deine Bewegungen in- und auswendig, weiß,
was du gerne isst und trinkst, kenne deine Neigungen und deine Vorlieben, weiß
was du hasst und was du liebst. Ich kenne deine Witze und deine ernsten
Gedanken, ich weiß, welche Zahnpasta du benutzt und welches Rasierwasser. Ich
trage die Marke deiner Unterhosen genauso wie die deiner Hemden, ich lege meine
Socken zusammen, wie du es tust, und genauso wie du lasse ich stets bei
Langeweile eine Münze um meine Finger wandern, blase Rauchringe in die Luft
oder wackle mit den Ohren.“ Er hielt ein Fünfmarkstück zwischen Zeige- und
Ringfinger und ließ es in Windeseile tanzen. Dann reichte er mir die Münze, und
ich tat dasselbe.
Ich fuhr mir mit
der linken Hand durchs Haar, blickte zu Boden, sah der Münze in meiner rechten
zu und murmelte: „Das ist doch verrückt.“ „Ja, das ist verrückt!“, sagte ich
leise. „Gib mir deinen Arm!“, rief ich dann und fasste hektisch nach seiner
rechten Hand. Ich streifte seinen Hemdsärmel nach oben und drehte seine Elle
nach außen. „Die Narbe, du hast dieselbe Narbe!“, rief ich und zeigte ihm
meinen Arm.
„Ja“, sagte er
ruhig und löste sich sanft aus meinem Griff. „Du hast sie von dem scharfen Ast,
als du mit elf Jahren den Baum hinunterfielst. Ich habe sie von der Hand eines
Chirurgen.“
Ich starrte ihn an
und begriff nicht, was er gesagt hatte. „Das muss ein böser Traum sein. Du bist
ein Hirngespinst. Dich kann es nicht geben, nicht so, wie du erscheinst. Du
bist ein Trugbild, ein Dämon, ein Monster, du bist ... du bist die Inkarnation
des Kafkaesken!“, sprach ich, und allmählich machte sich ein Gefühl von
Fatalismus in mir breit, das gleichsam Belustigung verursachte.
„Oh nein, mein
lieber Bruder!“, sprach Konrad gefasst. „Ich bin dein Gefangener. Wenn du es
nicht begreifen willst: Ich bin auf dich trainiert. Man hat es mir so
beigebracht, bis hin zur Sprache. Wegen deiner Existenz hat man mich mein Leben
lang eingesperrt in einem Zimmer, das dem deinen glich wie ein Ei dem anderen.
Täglich musste ich zwei Stunden deinen Tonfall üben, täglich musste ich mir
Tonbänder mit den Stimmen unserer Eltern anhören. Ich musste lernen, mich so zu
verhalten wie du, ich musste lernen, so zu fluchen wie du, ja ich musste sogar
lernen, so zu scheißen wie du!“, zischte er mich an und hatte kurz seine
Beherrschung verloren.
„Wie viele Blätter
benutzt du auf dem Klo?“, fragte ich ihn.
Er stockte. „Was?“,
fragte er halb lachend.
„Wie viele Blätter
Toilettenpapier
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