Gott wuerfelt doch 1
derselben Welt wie
auch wir es sind, auf der Welt, die sie niemals verstehen wird. Sie wissen,
dass die allermeisten Menschen das alles verabscheuen, und genau darin liegt
ihre ständige Lusterneuerung. Diese Menschen sind psychologisch ein so
unbegreifliches Phänomen, dass man sie selbst in Fachkreisen zu wenig erkennt.“
Ich hob angeekelt den Kopf, verzog die Brauen und fragte
ihn: „Aber Mengele war doch in erster Linie als Wissenschaftler und Arzt nach
Auschwitz gekommen. Wie steht das in Zusammenhang?“
Dimitrios’ Augen zeigten Kraft. Dann sagte er leise.
„Mengele war einer von ihnen. Bis zu seinem Lebensende! Er hat es lustvoll
erlebt, was er in Auschwitz getan hat. Soviel ist mir klar geworden, nachdem
ich seinen Fall studiert habe, er war das pure Böse.“
Dimitrios nickte und fuhr fort: „Stellt euch vor, was
passiert, wenn sich diese monströsen Menschen gegenseitig finden: Dann finden
sie plötzlich und gegenseitig unerwartet Verständnis und damit Bestärkung. Sie
steigern sich in diese Gedankenwelten hinein und sehen ihre Chance, ihre
Begierden irgendwie freier ausleben zu können. Und für diese kranken Geister
haben die Nazis Freiraum geschaffen. Sie haben genau diesen Schattenwesen
Möglichkeiten geschaffen, aus der Versenkung aufzusteigen und Macht zu gewinnen
und sich in ihrem Sinne kreativ zu betätigen.“ Seine Stimme war jetzt lauter
geworden, und wir spürten die Abscheu und Verbitterung, die in seinen Worten
mitschwang. „Vor kurzem sind Mengeles letzte Briefe in Brasilien aufgetaucht.
Und wisst ihr was? Er war sich bis zu seinem Ende keiner Schuld bewusst“, sagte
er, um seine These zu stützen.
Konrad und ich
waren verstummt, für lange Momente zu keinem Wort mehr fähig.
„Und Mutter?“,
fragte ich schließlich vorsichtig.
„Eure Mutter war
ein Vergleichszwilling. Ihre Schwester aber hat Mengele gequält, sie starb in
den Operationssälen des Gnadenlosen. Es war ein nahezu unerträgliches
Paradoxon: für eure Mutter das Glück, überlebt zu haben, für ihre Schwester das
grausame Unglück, nicht einen schnellen Tod im Gas sterben zu dürfen.“
Konrad kamen jetzt
die Tränen. Ich sah die tiefe Traurigkeit in seiner Seele. Er nahm meine Hand
und drückte sie. Ich rückte näher an ihn heran und nahm ihn in meine Arme; ich
hatte das Gefühl, als weine er zum ersten Mal in seinem Leben. Er rieb sich die
Augen und forderte Dimitrios leise auf, weiterzureden.
„Ab dem Sommer 1944
... „, Dimitrios spürte die Qual Konrads und schluchzte leise auf; dann sprach
er um Fassung ringend weiter, „ ... waren die Zugänge in Auschwitz derart groß,
dass viele Zwillinge deshalb überlebt haben, denn ihre Anzahl überstieg selbst
Mengeles Experimentierfleiß und sein Raumangebot. Nebenan aber waren die
Krematorien Tag und Nacht in Gang. Im Januar 1945 verschwand Mengele aus
Auschwitz. Die SS-Leute sprengten die Öfen und setzten die Lagerbaracken mit
dem enteigneten Hab und Gut der Gefangenen in Brand.“ Dimitrios zischte zornig:
„Diese Baracken mit all den Schätzen wurden von den Lagerinsassen Kanada
genannt, weil diese armen Schweine die Aura der angehäuften Werte in naiver
Kenntnislosigkeit mit dem gelobten Land in Nordamerika verglichen.“
„Und was geschah
mit den überlebenden Zwillingen?“, fragte ich.
„Sie wurden von den
SS-Schergen in das Frauenlager von Birkenau gesteckt, einem Teil des Lagers
Auschwitz. Man überließ die Geschundenen dort einfach ihrem Schicksal. Sie
waren ohne Nahrung, sie hatten nur Wasser, aber sie warteten geduldig auf ihre
Befreier. Am 27. Januar 1945 marschierten russische Truppen in Auschwitz ein
und erlösten die Frauen von Birkenau und mit ihnen zweihundert überlebende
Zwillinge von ursprünglich zweitausendachthundert. Danach wurde ein großes
Freudenfest gefeiert.“
„Was wurde aus
Mengele?“, fragte Konrad mit glühendem Blick.
„Was er nach seinem
Verschwinden aus Auschwitz tat, ist nicht exakt rekonstruierbar. Auf jeden Fall
ist bekannt, dass er ab Juni 1945 unter falschem Namen in amerikanischer
Gefangenschaft war, aber im August wieder entlassen wurde, ohne dass die
Amerikaner gewusst hätten, wen sie da aufgegabelt hatten. Mengele versteckte
sich einige Wochen in der Nähe seiner Heimatstadt Günzburg in den Wäldern.
Danach arbeitete er drei Jahre lang in der Nähe von Rosenheim als Stallknecht.
Dann blieb er einige Monate im Dunkeln. Womöglich hat er sich nochmals in
Günzburg versteckt. Am Karfreitag 1949
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