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Gott wuerfelt doch 1

Gott wuerfelt doch 1

Titel: Gott wuerfelt doch 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Kreutzer
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rechtfertigen.“
    Einen kurzen Moment
lang erkannte ich in Dimitrios’ Augen einen traurigen Glanz.
    „In
Nazi-Deutschland wurde dann die negative Eugenik gelehrt und angewendet:
Behinderte wurden vom Staat zwangssterilisiert. Es waren jedoch nicht
ursprünglich die Nazis, die die negative Eugenik erfanden, und sie waren auch
nicht ihre einzigen oder letzten Verfechter.“ Dimitrios spielte mit seiner
Tasse. „In der Schweiz und in Skandinavien wurde sie lange Zeit angewendet. In
Schweden beispielsweise gab es während der fünfziger Jahre noch Prämierungen
für Kinder, die im Sinne der Eugenik rassisch rein waren, also nordisch,
sprich: blond und blauäugig! Wie Kälber wurden sie ausgestellt und rassisch
bewertet. Merkwürdig nicht? Und Schweden war ja nie ein besonders ausgeprägtes
Nazi-Land“, setzte er hinzu. „Bis in die siebziger Jahre hat es in Schweden sogar
Zwangssterilisationen an Behinderten gegeben, und das in einem Land, das
weltweit stets in seinem Ansehen als Vorbild für ein Muster an Sozialstaat ganz
vorne rangierte!“
    „Und heute? Gibt es
diesen Forschungszweig etwa noch?“, fragte Konrad angewidert.
    Dimitrios fixierte
erst mich, dann Konrad und fuhr fort: „Ja, aber er ist nicht mehr von den
negativen Lehren und ideologischen Sackgassen Mittel- und Nordeuropas geprägt.
Heute trachten die Eugeniker danach, positiv zu denken und auch zu
formulieren.“ Wir sahen ihn fragend an. „Das bedeutet: Ziel soll es sein,
vermeintlich hochwertiges Leben zu vermehren und damit seine
Durchsetzungsfähigkeit innerhalb einer Population zu vergrößern, ohne das Recht
auf Leben behinderter Menschen in Frage zu stellen - also nicht im Sinne von
elitärer Auswahl, sondern durch Genpoolverstärkung.“
    Konrad betrachtete
ihn und fragte: „Und Mengele, wie hat er gedacht? Was hat er getan?“
    Dimitrios lehnte
sich kurz zurück und holte tief Atem, doch ich kam ihm zuvor: „Mengele war seit
1937 Assistent bei Professor von Verschuer in Frankfurt am Institut für
Erbbiologie und Rassenhygiene. Er trat in die Waffen-SS ein, nahm am
Russlandfeldzug teil und wurde im Januar 1943 verletzt. Er wurde nach Berlin
versetzt. Dort war er kurze Zeit für das Kaiser-Wilhelm-Institut für
Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik tätig, das inzwischen von
Verschuer geleitet wurde. Ab Mai 1943 rückte Mengele als Lagerarzt im
Konzentrationslager Auschwitz nach. Er hat dort über Leben und Tod von Millionen
Unschuldigen entschieden; die meisten freilich hat er in den Tod geschickt. Ist
jedem Zwillingsforscher bekannt!“, sagte ich und hob die Schultern.
    „Was hat das mit
unserer Mutter zu tun?“, bohrte Konrad jetzt mit zitternder Stimme.
    Nun ergriff
Dimitrios wieder das Wort: „Mengele hat die Deportierten aus jedem
Eisenbahnzug, der in Auschwitz ankam, in die Gaskammern oder ins Arbeitslager
geschickt, je nach augenscheinlicher Verfassung der Verschleppten. Die
allermeisten waren Juden“, sagte Dimitrios traurig. „Entdeckte er
Zwillingskinder, so selektierte er sie gesondert. Sie wurden hübsch gekleidet
und bekamen eine bessere Unterkunft. Er gab ihnen akzeptables Essen, und sie
waren sein ganzer Stolz. Er spielte sogar mit ihnen, streichelte sie ab und zu.
Sie nannten ihn Onkel Mengele. Viele von ihnen gewannen mit der Zeit ein
eigenartiges Vertrauen zu ihm.“
    Dimitrios hielt
inne und bestellte drei Ouzo. Der Wirt kam an den Tisch, stellte drei Gläser
hin und schenkte ein. Dimitrios nahm sein Glas und stürzte den Schnaps
hinunter. Er hielt den Wirt am Arm und deutete auf sein Glas.
    „Wie kann ich
jemandem vertrauen, der mich missbraucht?“, fragte ich halblaut, den Blick auf
Dimitrios Hand gerichtet, die das Glas hielt.
    Nachdem der Wirt
erneut das Glas gefüllt hatte, antwortete Dimitrios: „Jemand, der nichts mehr
hat und nur noch geschändet wird, klammert sich in einer Umgebung der
Gefühlskälte und Grausamkeit an jeden kleinen Strohhalm, und dadurch wird er
noch mehr missbrauchbar: wie ein Huhn, das mit einer Körnerspur zur
Schlachtbank gelockt wird. Flüchtlinge zum Beispiel haben dasselbe Problem:
Wenn sie in falsche Hände geraten, sind sie unbegrenzt missbrauchbar!“
    „Erzähl uns die
Geschichte von unserer Mutter!“, drängte Konrad.
    „Eure Mutter und
ihre Zwillingsschwester kamen aus Ungarn nach Auschwitz. Sie hießen damals
Marika und Miriam Bash. Marika sollte sich später in Rita umbenennen. Man
brannte ihnen ihre Nummern in den Unterarm und steckte sie in weiße

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