Gott wuerfelt doch 1
sitze. Aber ich
habe Anna gehabt. Die meisten Menschen glauben, Liebe bis ans Ende ihres Lebens
körperlich spüren zu müssen, um glücklich gewesen zu sein. Ich glaube, dass
solche Menschen nie konsequent gefühlt haben. Wer einmal so geliebt hat wie ich
und diese Liebe auch erwidert bekam, sehnt sich nicht danach, sie mit jemandem
zu wiederholen. Liebe ist auf das Zusammenspiel von ganz besonders zueinander
passenden Menschen beschränkt, in welcher Form auch immer: aber sie ist nicht
wiederholbar. Der Schmerz aber, den man beim Verlust von Liebe verspürt,
wandelt sich mehr und mehr zu Reichtum: zu Reichtum in Form von Erinnerung.
*
1986 hatte ich mein
Studium beendet und bekam anschließend eine Stelle an der Universität zu Köln
als Hochschulassistent. Vor lauter Freude und Euphorie hatte ich eine riesige
Feier organisiert, um mein erstes Gehalt mit meinen Freunden zu versaufen. Das
Leben als Wissenschaftler begann mir zu gefallen, die Biologie und die Genetik
hatten sich mir erschlossen. Über Zwillinge und die Forschung hatte ich eine
Menge gelernt. Ich stellte einen Projektantrag zur Erforschung von bestimmten
Verhaltensweisen von Zwillingspaaren, die getrennt und unter sozial
unterschiedlichen Verhältnissen aufgewachsen waren. Mein eigenes Schicksal
hatte die Berufswahl also beeinflusst. Ich hatte bemerkenswerte amerikanische Forschungsarbeiten
gelesen, denen die Auswertungen von zehntausenden Zwillingen zugrunde liegen,
und daraus gelernt, dass erwachsene Zwillinge, die als Kinder getrennt wurden
und nichts voneinander wussten, sehr oft gemeinsame Marotten zeigten, dieselben
Suchtkriterien oder dieselbe Gestik aufwiesen, denselben Geschmack, ja sogar
äußerlich ähnliche Lebenspartner gewählt hatten. Je älter sie wurden, umso
höher war der Grad der Ähnlichkeiten. Diese Erkenntnisse wiederum ließen die
begründete Vermutung zu, dass viele Eigenarten von Menschen eben nicht
Umwelteinflüssen wie Erziehung unterliegen, sondern rein genetische Schriftzüge
tragen. Und mit zunehmendem Alter siegte eben die Genetik über die Erziehung
der Menschen. Die Vererbung war also bei vielen Gewohnheiten der wesentlich
stärkere Faktor als die Erziehung. Mein Vater sagte einmal zu mir, das sei der
eigentliche Grund, warum ältere Menschen sehr oft eigenwillig und merkwürdig
wirken würden, ihr Grad der Angepasstheit nehme ständig ab, und der Genpool
schlüge immer stärker durch.
Nun hatte ich in
Deutschland auch solche Zwillingspaare ausfindig machen können, und zwar mit
Hilfe des Roten Kreuzes. Es waren allesamt ehemalige versprengte Kriegskinder,
die sich seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatten. Ich suchte und fand
diese Leute in ganz Deutschland und teilweise auch im Ausland; ich besuchte
sie, um ihre Gewohnheiten zu erfassen und die Daten anschließend abzugleichen
und auszuwerten. Diese Arbeit sollte die Grundlage für meine Doktorarbeit sein.
Die Forschungen machten mir Spaß, und ich war glücklich.
Vater hatte es
geschafft: Am 6. Juni 1986 wurde er zum Leiter des Fraunhoferinstituts für
Humangenetik in Kombination mit einer Professur an die Rheinisch-Westfälische
Technische Hochschule zu Aachen bestellt. Die Auszeichnungen für seine
wissenschaftlichen Arbeiten hatten sich in den letzten Jahren gehäuft, und er
war in der Welt der Forschung ein berühmter Mann geworden.
Mutter setzte der
Gedanke zu, Köln verlassen zu müssen. Aachen war Vater bereits gut vertraut,
denn dort hatte er mehrere Kongresse besucht und als Gastprofessor Vorlesungen
gehalten. Außerdem genoss ein Jugendfreund aus seiner Bremer Schulzeit hohes
Ansehen in der Stadt im äußersten Westen Deutschlands, denn er war Propst des
Kaiserdoms zu Aachen geworden.
Meine Eltern
beschlossen, am folgenden Samstag Aachen zu besuchen. Anna und ich wurden
kurzerhand eingeladen, sie zu begleiten.
Mutter war wie
immer gut vorbereitet. Sie hatte sich zwei Bücher über die Stadt gekauft und
sie aufmerksam gelesen. Sie saß auf dem Beifahrersitz und hielt sie in Händen,
als wolle sie Vater warnen, ihr bloß nichts Falsches zu erzählen. Und so fuhren
wir von Köln in Richtung Westen, vorbei an dem gigantischen Kraftwerk in
Weisweiler mit seinen Kühltürmen, aus denen Meere von Wolken aus weißem
Wasserdampf in den Himmel wuchsen. Nach einer Stunde näherten wir uns Aachen,
der Krönungsstadt der deutschen Kaiser und Könige, und als ich den Anblick zum
ersten Mal genoss, verstand ich, was Victor Hugo einst so beschrieben
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