Gottes Gehirn
die Zehenspitzen stellte, den Oberkörper vor und zurückwippen ließ und mit den Armen in der Luft herumruderte, „das bestätigt umso mehr, was ich Ihnen gerade gesagt habe. Sie und ich, wir alle sollten nach Wegen suchen, wie wir den Inhalt unseres Gehirns auf eine Festplatte kopieren können. So schnell wie möglich. Wer weiß, vielleicht sind wir schon morgen alle tot.“
BLUE NOTE
„Kannst du mir mal erklären, wie einer auf einem gut ausgebauten Highway, der nur eine einzige Kurve hat, diese verfehlt, zwei Zäune durchbricht und dann eine Klippe runterstürzt“, sagte Jane, während sie den missbilligenden Blick des Kellners ignorierte. Die Benutzung von Laptops war im Speisewagen nicht gern gesehen, doch wer hätte es wagen sollen, Jane von ihrem Laptop zu trennen? Unentwegt machte sie sich Notizen, stöberte in irgendwelchen virtuellen Archiven herum oder beauftragte Kowalski mit Recherchen.
Sie waren in Boston in den Zug gestiegen und waren nun auf dem Weg nach New York, wo sie an der Columbia University Morris Jackson interviewen würden, der auf der Konferenz offenbar eine Schlüsselrolle eingenommen hatte.
„Ich hätte gern Freemans Kopf gesehen, bevor er in seinem Auto verbrannt ist“, sagte Troller.
„Ich lieber nicht“, sagte Jane, ohne vom Laptop aufzublicken.
„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wer ein Interesse daran haben könnte, zwei solche Unfallserien zu inszenieren“, sagte Troller. „Und vor allen Dingen, wer dazu imstande ist.“
„Bei Kranichs Tod war nichts inszeniert. Das war eiskalter Mord.“
„Warten wir’s ab.“ Troller spürte immer noch ein Ziehen in der Herzgegend, wenn von Kranich die Rede war. Er hatte ihn mehr gemocht, als ihm vorher klar gewesen war. „Weißt du übrigens, dass ich ihn mal hier getroffen habe?“
„Kranich?“
„In Boston. Das war das erste Mal, dass wir uns seit der Schulzeit wieder gesehen haben. Er arbeitete damals am MIT, und ich hatte den Auftrag, ihn zu interviewen. Er hat mir anschließend die Stadt gezeigt. Wir sind den ganzen Freedom Trail entlang gewandert. Hast du das mal gemacht?“
Jane schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht einmal, was der Freedom Trail ist.“
„Ein Trampelpfad für Touristen. Sie haben eine dicke rote Linie durch die Altstadt gezogen, und wenn du da entlanggehst, kommst du von einem historischen Gebäude zum anderen, vom Massachusetts State House zur Faneuil Hall, von der Faneuil Hall zu Paul Revere’s House und von da zum Boston Tea Party Ship. Überall begegnen dir Leute in historischen Kostümen, die so tun, als wären sie Paul Revere oder Peter Faneuil, also die Leute, die damals bei der Revolution eine Rolle gespielt haben. Du kannst mit ihnen reden, du kannst sie alles Mögliche fragen, und sie antworten dir immer aus der Rolle heraus. Ist ’ne Art von Zeitreise, die du da machst. Und dann kommst du zur Beaver II, einem Nachbau des berühmten Boston-Tea-Party Schiffs, zahlst deinen Eintritt und begegnest sofort wieder Leuten in historischen Kostümen. Sie führen dich auf dem Schiff herum, erzählen dir, wie es zur berühmten Boston Tea Party gekommen ist, und am Ende fordern sie dich und die anderen auf, mit ihnen zusammen die Ballen mit dem Tee ins Meer zu werfen. Rebellion! Aufstand gegen die Engländer! Nieder mit der Teesteuer! Freies Land! Und auf einmal stehst du mit einem Pulk von Leuten an der Reling und brüllst: > Dump the tea – into the sea – dump the tea – into the sea !< und wirfst irgendwelche Teeballen ins Meer. Einfach genial. Du glaubst am Ende wirklich, du wärst an einem historischen Ereignis beteiligt gewesen. Geschichte als Rollenspiel. Es kommt dir zwar alles ein bisschen naiv vor, aber es bleibt im Gedächtnis.“
„Ganz Amerika ist ein riesiger Kindergarten“, sagte Jane.
„Hört sich an, als wärst du nicht besonders stolz darauf.“
„Ich hab kaum in Amerika gelebt. Außerdem ist meine Mutter eine Deutsche.“
„Ach, deshalb“, sagte Troller. „Ich hatte mich schon gewundert, wieso du so akzentfrei sprichst.“
„Sie hat immer nur deutsch mit mir gesprochen. Mein Vater englisch, sie deutsch.“
„Wie hat sie deinen Vater kennen gelernt?“
„In Berkeley.“
„Was hat sie studiert?“
„LSD, Marihuana, Magic Mushrooms und solche Sachen.“
„Und dein Vater? War der auch ein Hippie?“
„Nee, der wollte schon immer Diplomat werden.“ Sie machte eine kurze Pause und fügte hinzu: „Ich glaube, der ist schon als Diplomat auf die Welt
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