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Gottes Tochter

Gottes Tochter

Titel: Gottes Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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haben die Wenderei prima verkraftet, aber sie nicht. Und niemand hat sich um sie gekümmert. Der neue Hausbesitzer hat sich geweigert, die Renovierung der Wohnung zu bezahlen, dafür musste Ilses alter Vater aufkommen, eine Schande war das, der Hausbesitzer hat gesagt, das ist alles Ostkacke hier, dafür ist er nicht zuständig, er kommt aus Rottach-Egern, wo alles sauber ist, da gibts keine Ostkacke, nur Westkacke, aber die sieht man nicht…«
    »Hör auf!«
    »Hast du das alles vergessen, Marlen?«
    »Nein!«
    Nichts hatte sie vergessen. Wenn es sein musste, erinnerte sie sich an alles, an die unbedeutendsten Begebenheiten, Kohlschneiden mit Ilse zum Beispiel, Kohlschneiden mit Hanna. Aber war dieses Erinnern ein Wert? Angesichts der Gegenwart, die über sie gekommen war wie ein Sturm, gegen den jeder Widerstand zwecklos war. Von einem Tag auf den anderen war das wirkliche Leben nicht mehr privat, wie früher, sondern öffentlich, und in den Nischen duckten sich die Verweigerer oder solche wie Ilse, die der Sturm innerlich verwüstete. Nacht um Nacht saß Marlen bei ihr in der Küche, sie redeten, was sollten sie sonst tun? Und Ilse beschwor die alten Zeiten und warf der neuen Zeit vor, sie sei kalt und verächtlich. Vielleicht hatte sie Recht. Bestimmt hatte sie Recht. Aber in Wahrheit, daran glaubte Marlen bis heute, hasste ihre Freundin nicht nur die gut gekleideten Besserwisser aus dem Westen und ihre alten Nachbarn, die alles unternahmen, um genauso gut gekleidet zu sein und sich so rasch wie möglich an und einzupassen, in Wahrheit hatte Ilse begonnen, sich selbst zu hassen, weil es ihr nicht gelang, das Neue zu genießen. Sie sah immer nur in den Spiegel anstatt aus dem Fenster. In ihrer kleinen Zweiraumwohnung fühlte sie sich beobachtet und bedrängt, weil sie hier plötzlich dieselbe Person wie auf der Straße sein musste, die Realität war überall die gleiche, und sie war ein Teil davon, sosehr sie sich auch duckte. Sie führte ein überrolltes Leben und sie wollte es so. Und irgendwann kam Marlen die Sanftmut abhanden. Und dann hielt Ilse ihr vor, sie sei jetzt wie alle anderen, verleugne die eigene Geschichte und begreife nicht, wie die Wenderei jeden Einzelnen von ihnen in eine dumme Gans verwandelte. »Ihr dummen Gänse!«, sagte sie noch kurz vor ihrem Tod zu Marlen und Hanna und den drei Freundinnen, die ihr geblieben waren. Sie hatte keine Schuld, dachte Marlen am Tag von Ilses Beerdigung, sie hatte einfach nicht begriffen, dass das Gute, das es früher gab, sich nicht von selbst erhalten konnte, sie waren jetzt eine offene Gesellschaft, und es würde etwas anderes Gutes geben, das man lernen und begreifen musste. Manchmal, an Ilses Grab oder in den ewigen Telefongesprächen mit Hanna, überlegte Marlen, was das neue Gute wohl war und ob es Ilse vielleicht überzeugt hätte, sodass sie nicht länger hätte von Erinnerungen zehren müssen und wieder ein echtes Leben beginnen können, unvorhersehbar, kurios, voller ungebetener Gäste.
    »Schmeiß das Mädchen raus, und du hast deine Ruhe!«, sagte Hanna. »Du bist doch sonst kein zimperlicher Mensch.«
    »Was mach ich, wenn die Polizei kommt?«, fragte Marlen. Die Vorstellung, sie öffnete die Tür und zwei Uniformierte forderten sie auf, aus dem Weg zu gehen, vermischte sich mit Bildern aus der Vergangenheit… Wir müssen mit Ihrem Sohn reden, er ist einer der Verdächtigen, das wissen Sie doch, es besteht Verdunkelungsgefahr, und wenn Sie nicht aufpassen…
    »Dann sagst du ihnen, sie sollen sie mitnehmen«, sagte Hanna und stöhnte schokoladenschwer.
    »Ich muss mit Rico sprechen«, sagte Marlen. »Er muss eine Lösung finden. Ich weiß keine, ich weiß einfach keine.«
    »Verlass dich auf ihn«, sagte Hanna. »Aber mein Rat ist, pack ihr Zeug, stell es vor die Tür, und erklär ihr, wenn sie nicht verschwindet, rufst du die Polizei. Kapiert?«
    »Ja«, sagte Marlen mutlos.
    »Gut«, sagte Hanna. Marlen hörte ein Knistern, offenbar zerknüllte ihre Freundin das Stanniolpapier. »Und nun zur Eine-Million-Euro-Frage: Mit welchen Qualitäten hat Mr. Blue-Eyes Lady Marlen verzaubert? a) mit Humor? b) mit Charme? c) mit unglaublichen technischen Fähigkeiten?«
    Marlen nahm das leere Glas vom Tisch und roch daran.
    »Er ist verheiratet«, sagte sie. »Das genügt.«
    »Verheiratet ist schnell mal einer. Verheiratete Männer haben die saubersten – du weißt schon – Werkzeuge. Etwa nicht?«
    »Verheiratete Männer haben vor allem Ehefrauen und

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