Gottes Tochter
hab noch Ananas«, sagte Marlen. »Allerdings aus der Dose.« Sie sah Julika an, die einen abwesenden Eindruck machte. Zuerst hatte sie befürchtet, das Mädchen habe Drogen genommen. Beim Tischdecken, nachdem sie Rico gefragt und er mit einem lauten Nein reagiert hatte, dachte sie dann, Julika sei wahrscheinlich müde. Im Verlauf des Essens war Marlen sich nicht mehr sicher. Überhaupt empfand sie angesichts des Mädchens, das allem Anschein nach nicht so rasch wieder gehen würde, eine Ratlosigkeit, die sie nicht kannte und die sie mehr beunruhigte als die Frage, wie lange Julika vorhatte zu bleiben. Ohne dass sie sich dagegen wehren konnte, löste die Anwesenheit Julikas eine Art Brand in ihrem Körper aus, den sie bis in die Finger hinein spürte. Sie begann zu schwitzen, und im nächsten Moment zitterten ihr die Beine, sie presste die Knie unter dem Tisch aneinander und legte die Hände in den Schoß und ballte die Fäuste. Obwohl Rico, der ihr gegenübersaß, nicht erkennen konnte, was sie tat, verwirrte ihn ihr Verhalten so, dass er sie merkwürdig ansah. Aber er sagte nichts.
Dafür sagte Julika: »Danke.«
Marlen erschrak. Sie bildete sich ein, ihre Haut würde sich dunkelrot färben. Sie spitzte den Mund und blies unhörbar auf ihre entblößten Unterarme, was ihr sofort lächerlich vorkam. Sie saßen im Wohnzimmer. Am Tisch in der engen Küche wäre es für drei Personen zu eng gewesen. Normalerweise aßen sie nie im Wohnzimmer. Marlen nahm sich vor, dies in Zukunft zu ändern. Nicht wegen des Mädchens.
»Du solltest deine Eltern anrufen«, sagte sie. Jetzt erschrak sie über ihre eigene Stimme.
»Hat sie schon gemacht«, sagte Rico sofort.
»Wann?«
»Heute Morgen«, sagte er.
»Warst du dabei?«
»Nein!«, sagte er in dieser ungewohnten Lautstärke, in der er, seit das Mädchen aufgetaucht war, schon ein paar Mal mit ihr gesprochen hatte.
»Was hast du ihnen gesagt?« Julika zögerte nicht lange.
»Ich hab gesagt: ›Es geht mir gut, ich werd nicht wiederkommen, und wenn du die Polizei auf mich hetzt, bring ich mich um.‹«
Ihr Blick, mit dem sie die Möbel und das ganze Zimmer betrachtete, ließ Marlen die seltsamen Vorgänge in ihrem Inneren vergessen. »Was soll das?«, fragte sie laut und meinte auch ihren Sohn. »Was denkst du denn, wer du bist? Glaubst du, wir…«
Julika hatte keine Ahnung, was mit der Frau los war.
»… sind ein Haus für Asylbewerber, die aus dem Westen geflüchtet sind? Tauchst hier auf, bringst meinen Sohn in Schwierigkeiten und…«
Julika fragte sich, welche Schwierigkeiten Ricos Mutter meinte, er hatte kein Wort davon erwähnt.
»… nistest dich hier ein, als hätten wir dir das erlaubt. Ich möchte, dass du wieder gehst. Ich kenne dich nicht, ich weiß nicht, was du im Schilde fuhrst. Hast du was mit Rico? Das geht mich nichts an. Aber ich möchte, dass du verschwindest, hörst du mir zu?«
Ja, sagte Julika zu sich.
»Ich red nicht gerne mit Taubstummen, ich kann nämlich ihre Sprache nicht. Wenn du dich mit Rico treffen willst… ich kann dich nicht daran hindern und ich will es auch nicht, macht, was ihr wollt, sucht euch ein billiges Zimmer in der Stadt, irgendwo musst du ja wohnen, falls du unbedingt in dieser Stadt bleiben willst, was ich zwar nicht verstehen würde, macht ja nichts. Ich finde es frech von dir, hier einfach aufzutauchen und dich breit zu machen, ich mag so etwas nicht, du kommst aus… woher kommst du eigentlich?«
Julika brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass Marlen ihr eine Frage gestellt hatte.
Ihre Antwort, ihre Stimme, die auf einmal schwach und kränklich klang, brachten Marlen aus dem Konzept. Sie wiederholte den Namen der Stadt nur deshalb, weil sie ihn deutlich und bestimmt aussprechen, weil sie irgendetwas damit beweisen, irgendetwas ein für alle Mal klarstellen wollte. Weil die Ratlosigkeit zurückkehrte, die sie vorhin erschüttert hatte.
»Wenn sie bleiben will, bleibt sie«, sagte Rico in Marlens schwankendes Schweigen hinein.
»Das wird sie nicht!«
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht will!«
»Warum nicht?«
Marlen betrachtete Julikas bleiche Finger, deren Nägel abgekaut waren, mit Ausnahme der schwarz lackierten der beiden kleinen Finger. Nicht, dass Marlen überrascht gewesen wäre, in die Bibliothek kamen alle möglichen jungen Leute, auch solche, von denen sie, würde sie ihnen auf der Straße begegnen, kaum vermutet hätte, dass sie je einen Roman oder einen Gedichtband in die Hand nehmen.
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