Gottes Tochter
Manche trugen stachelige Ringe, an jedem Finger zwei, und die Bandbreite ihrer Klamotten reichte von Designerware bis zu zerlumpter Leder-Punk-Montur, worin sie aussahen, als wären sie aus den siebziger Jahren herübergebeamt worden, inklusive Irokesenschnitt. Schwarz lackierte Fingernägel waren für Marlen Keel nichts Spektakuläres.
Und doch starrte sie Julikas Hände an, die zwei kleinen Finger, deren Nägel in Marlens Vorstellung zu glänzen begannen wie magische ovale Spiegel, in denen sie ihr Gesicht sehen konnte.
»Warum nicht?«, fragte Rico ein drittes Mal. Sie hatte nicht das Bedürfnis zu widersprechen. Und dasselbe zu sagen wie zuvor: Weil sie es nicht wollte. Sie rieb die Knöchel ihrer Fäuste aneinander und presste die Knie zusammen.
»Mutti!«
Rico wischte mit der flachen Hand durch die Luft. »Ist dir schlecht?«
Krampfhaft suchte sie nach einem einzigen Wort. Wenn es ihr gelänge etwas zu sagen, wäre die Verkrampfung vorbei und alles wieder normal, wie immer, keine Gespinste mehr, kein Gespinne.
»Trinken Sie was!«
Julika hielt ihr ein Glas Wasser hin. Marlen nahm es, trank und zögerte nach jedem Schluck, leerte das Glas und betrachtete ihre Hand, als wäre es die Hand einer Fremden. Julika stellte das Glas auf den Tisch. Marlen legte die Hand in den Schoß.
»Du hast wieder Gedanken«, sagte Rico.
Diese Bemerkung war wie eine Erlösung. »Ja«, sagte Marlen.
»Du hast Recht.«
»Ich pack dann meine Tasche«, sagte Julika.
»Warte.« Marlen griff nach ihrem Arm. Und ließ ihn sofort wieder los. »Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Nein«, sagte Julika.
»Warum bist du von zu Hause weggelaufen?«
Julika warf Rico einen Blick zu, der ihn zwang, nervös mit dem rechten Bein zu wippen. Er wusste nicht, wieso.
»Ich bin nicht weggelaufen«, sagte Julika. »Ich bin ausgezogen. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich ziehe nicht bei Ihnen ein.«
»Was ist passiert?«, fragte Marlen und fühlte sich eigenartig erleichtert, als Julika die Hände vom Tisch nahm und in die Hosentaschen steckte.
»Das ist alles Vergangenheit«, sagte Julika. »Jetzt fang ich an zu leben. Vorher hab ich nur so getan.«
Daraufhin schwieg sie, saß reglos da mit gestrecktem Rücken, die Hände in den Hosentaschen, und blickte zur offenen Tür.
»Hast du Verwandte oder Bekannte, bei denen du vorübergehend bleiben kannst?«, fragte Marlen.
»Nein«, sagte Rico.
»Ja«, sagte Julika gleichzeitig. »Zu denen geh ich aber nicht. Ich miete mir ein Hotelzimmer.«
»Hast du so viel Geld?«
»Es reicht.«
»War deine Mutter am Telefon?«, fragte Marlen.
»Was?«
»Heute Morgen, als du zu Hause angerufen hast.«
»Mein Vater.«
»Er hat schon einmal die Polizei auf sie gehetzt«, sagte Rico. Marlen nickte, unschlüssig, ob sie weiterfragen sollte. Weiterfragen bedeutete: mehr Interesse zeigen, und mehr Interesse zeigen bedeutete: mehr Nähe, und mehr Nähe bedeutete: weniger Entfernung. Und sie wollte immer noch nicht, dass das Mädchen in der Wohnung blieb, und noch weniger würde ihr gefallen, wenn morgen die Polizei auftauchte. Sie duldete es nicht, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Und es war ihr ein Rätsel, weshalb ihr Sohn sich das bieten ließ. Dann sah sie ihn an, und was sie sah, verblüffte sie so, dass sie nicht anders konnte, als ein kurzes Lachen auszustoßen. Julika nahm Ricos Hand, die auf seinem Oberschenkel lag, und hielt sie fest. Und er rückte mit dem Stuhl und machte ein Gesicht, als wäre er Knirps Nimmerklug in Sonnenstadt.
Sie bestand darauf allein abzuspülen. Anschließend telefonierte sie und zwang sich, nur ein Glas Marillenschnaps zu trinken und nicht noch ein weiteres, worauf sie Lust hatte. Am liebsten hätte sie den ganzen Rest ausgetrunken, mindestens drei Gläser.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie in ihr Handy. Das kleine Glas hatte sie zur Hälfte geleert, sie schob es von sich weg und legte den Ellbogen auf den Tisch. Schon die wenigen Schlucke hatten eine beruhigende Wirkung auf sie.
»Dann sprich mit mir, das hindert mich am Schokoladeessen«, sagte ihre Freundin am anderen Ende.
»Und mich am Schnapstrinken«, sagte Marlen.
»Was ist passiert?«
Marlen erzählte Hanna vom unerwarteten Auftauchen Julikas und erwähnte auch die erste Begegnung zwischen ihrem Sohn und dem Mädchen nach Weihnachten.
»Und du hast nichts bemerkt?«, sagte Hanna.
»Er war wie immer. Er ist immer wie immer. Außer dass er neuerdings manchmal rumschreit.«
»Er
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