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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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vortäuschen müssen, um nicht den letzten Rest an Selbstbeherrschung zu verlieren.
    Er hatte die Mütter noch nie gesehen, die ihre ungewollten Babys in St. Cloud’s bekamen und dort zurückließen, und diesmal sah er sie auch nicht sehr deutlich. Zweifellos war es bedeutungsvoll, daß er sie zum erstenmal beim Abschiednehmen sah und nicht bei der Ankunft, mit vollem Bauch und ihrer Sorgen unentbunden. Noch bedeutsamer war, daß Homer spürte, daß sie nicht all ihrer Sorgen entbunden waren, wenn sie fortgingen. Noch nie hatte er trostlosere Menschen gesehen als diese Frauen; vermutlich war es kein Zufall, daß sie in der Dunkelheit fortgingen.
    Als er sich in den Schlaf zu wiegen versuchte, in jener Erntedanknacht bei Drapers in Waterville, sah Homer Wells die Mütter im Schnee fortgehen, doch er sah sogar mehr, als er tatsächlich gesehen hatte. In den Nächten, wenn er nicht schlafen konnte, fuhr Homer mit den Frauen in der Kutsche zum Bahnhof. Er stieg mit ihnen in den Zug, fuhr mit ihnen nach Hause; er fand heraus, welche seine Mutter war, und folgte ihr. Es war schwer, zu erkennen, wie sie aussah und wo sie wohnte, woher sie gekommen war, ob sie dorthin zurückkehrte – und schwerer noch, sich vorzustellen, wer sein Vater sei und ob sie zu ihm zurückkehrte. Wie die meisten Waisen stellte Homer sich oft vor, seine Eltern zu sehen, aber immer blieb er von ihnen unerkannt. Als Kind war es ihm peinlich, wenn er dabei ertappt wurde, wie er Erwachsene anstarrte – manchmal liebevoll, manchmal mit einer instinktiven Feindseligkeit, die er in seinem Gesicht auch nicht hätte lesen mögen.
    »Laß das, Homer«, pflegte Dr. Larch bei solchen Gelegenheiten zu sagen. »Hör endlich auf damit.«
    Selbst als Erwachsener ließ Homer sich immer noch beim Anstarren ertappen.
    In der Erntedanknacht aber, in Waterville, starrte er so angestrengt in das Leben seiner wirklichen Eltern, daß er sie beinah gefunden hätte, bevor er erschöpft einschlief. Plötzlich wurde er jäh von einem der Enkel geweckt, einem älteren Jungen; Homer hatte vergessen, daß er sein Bett mit ihm teilen sollte, weil das Haus überfüllt war.
    »Mach Platz«, sagte der Junge. Homer machte Platz. »Laß deinen Pimmel in deinem Pyjama«, sagte der Junge zu Homer, der nicht die Absicht hatte, ihn herauszuholen. »Weißt du, was Fummeln ist?« fragte der Junge dann.
    »Nein«, sagte Homer.
    »Doch, du weißt es, Pimmelsack«, sagte der Junge. »Ihr tut ja nichts anderes, ihr in St. Cloud’s. Ihr befummelt euch. Die ganze Zeit. Versuche nur, mich zu befummeln, und ich sage dir, du wirst zurückgeschickt, ohne deinen Pimmel«, sagte der Junge. »Ich werd dir den Pimmel abschneiden und ihn dem Hund verfüttern.«
    »Du meinst Rufus?« fragte Homer Wells.
    »Ganz richtig, Pimmelsack«, sagte der Junge. »Willst du mir immer noch erzählen, daß du nicht weißt, was Fummeln ist?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Homer.
    »Du willst, daß ich’s dir zeige, nicht wahr?« sagte der Junge.
    »Ich glaube nicht«, sagte Homer.
    »Doch, tust du, Pimmelsack«, sagte der Junge, und dann versuchte er, Homer Wells zu befummeln. Homer hatte nie gesehen oder gehört, daß jemand in St. Cloud’s auf diese Weise mißbraucht worden wäre. Auch wenn der ältere Junge seinen Fummel-Stil auf einem Internat gelernt hatte – einem sehr guten –, hatte man ihm dort nicht beigebracht, welche Art von Geschrei sich Homer Wells bei der Familie in Three Mile Falls antrainiert hatte. Jetzt aber schien es Homer an der Zeit, zu schreien – und zwar laut, wenn man der Fummelei entkommen wollte –, und sein Geschrei weckte den einzigen Erwachsenen im Hause Draper, der nur schlafen gegangen war (statt bewußtlos umzufallen). Mit anderen Worten, Homer weckte Mom. Er weckte auch alle Enkelkinder, und weil einige von ihnen jünger waren als Homer und weil sie alle keine Ahnung hatten von Homers Leistungen beim Zetern, stürzte sein Geschrei sie in nackte Panik – und rüttelte sogar Rufus wach, der schnappte.
    »Was, um Himmels willen …?« fragte Mom vor Homers Tür.
    »Er versuchte mich zu befummeln, da hab ich ihm eins verpaßt«, sagte der Internatsschüler. Homer, dem darum zu tun war, sein legendäres Geschrei unter Kontrolle zu bringen – es in die Vergangenheit zurückzuschicken –, wußte nicht, daß man Enkeln mehr Glauben schenkt als Waisen.
    »Hier in St. Cloud’s«, schrieb Dr. Larch, »ist es selbstzerstörerisch und grausam, sich allzu viele Gedanken zu machen über die

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