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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Waterville sonst wirkte, so sehr artete das Erntedankfest der Drapers – zu Homers Erstaunen – zum trunkenen Besäufnis aus.
    Der Professor hatte, mit Moms Worten, »einen sitzen«. Dies besagte, so folgerte Homer, daß der Professor mehr als sein normales, tägliches Quantum Alkohol konsumiert hatte – das ihn, wiederum mit Moms Worten, nur »beschwipst« machte. Erschüttert sah Homer, daß die beiden verheirateten Töchter und der verheiratete Sohn sich benahmen, als hätten auch sie einen sitzen. Und weil das Erntedankfest ein besonderer Anlaß war und er wie die Enkelkinder länger aufbleiben durfte, beobachtete Homer jenes allabendliche Ereignis, das er bislang nur beim Einschlafen gehört hatte: dieses Poltern und Zerren und Schlurfen und dann die gedämpfte Stimme der Vernunft, nämlich die des Professors, der nuschelnd gegen die Tatsache protestierte, daß Mom ihm mit Gewalt die Treppe hinaufhalf und ihn, mit erstaunlicher Körperkraft, aufs Bett hievte.
    »Der Wert körperlicher Ertüchtigung!« schrie der erwachsene und verheiratete Sohn, bevor er von der grünen Chaiselongue kippte und auf dem Teppich – neben dem alten Rufus – zusammenbrach, als sei er vergiftet worden.
    »Wie der Vater, so der Sohn«, sagte eine der verheirateten Töchter. Die andere verheiratete Tochter, stellte Homer fest, hatte nichts zu sagen. Sie schlummerte friedlich im Schaukelstuhl; ihre ganze Hand – bis übers zweite Fingerglied – badete in ihrem beinah vollen Glas, das sie auf ihrem Schoß balancierte.
    Die ungebärdigen Enkel verstießen gegen sämtliche Hausfriedensparagraphen. Die leidenschaftlichen Appelle des Professors, Ruhe und Ordnung zu wahren, verhallten am Erntedankfest offenbar ungehört.
    Der noch nicht einmal zehnjährige Homer Wells kroch still in sein Bett. Das Heraufbeschwören einer besonders traurigen Erinnerung an St. Cloud’s war ein Mittel, das ihm oft half, den Schlaf herbeizuzwingen. Er erinnerte sich an das eine Mal, als er die Mütter aus dem Spital des Waisenhauses hatte kommen sehen, das im Gesichtsfeld der Mädchenabteilung lag und an die Knabenabteilung angrenzte – beide waren durch einen langen Schuppen verbunden, in dem früher die Reserveblätter der Kreissäge aufbewahrt wurden. Es war früher Morgen und noch dunkel draußen, und Homer war auf die Lichter der Kutsche angewiesen, um zu erkennen, daß es schneite. Er schlief schlecht und war oft wach bei der Ankunft der Kutsche, die vom Bahnhof kam und das Küchenpersonal und die Putzfrauen und die erste Schicht fürs Spital in St. Cloud’s ablieferte. Die Kutsche war bloß ein ausgemusterter Eisenbahnwaggon; im Winter wurde sie auf Gleitkufen gestellt und fungierte als umgebauter Pferdeschlitten. Wenn nicht genug Schnee auf der Schotterstraße lag, schlugen die Schlittenkufen Funken aus den Steinen am Boden und machten ein schreckliches knirschendes Geräusch (denn die Kufen wurden erst gegen Räder ausgetauscht, wenn man sicher wußte, daß der Winter vorbei war). Eine Laterne zischte hell wie ein Leuchtfeuer neben dem dick vermummten Fahrer auf dem behelfsmäßigen Kutschbock, während im Innern der Kutsche schwächere Lampen blinkten.
    An diesem Morgen fielen Homer die Frauen auf, die im Schnee darauf warteten, von der Kutsche abgeholt zu werden. Homer kannte die Frauen nicht, die unruhig umhertrippelten, bis das Personal von St. Cloud’s vollzählig ausgestiegen war. Offenbar bestand eine gewisse Spannung zwischen diesen Gruppen – die Frauen, die darauf warteten, einsteigen zu können, wirkten scheu, sogar verschämt; die Männer und Frauen, die zur Arbeit kamen, wirkten vergleichsweise arrogant, sogar überheblich, und eine von ihnen (es war eine Frau) machte eine grobe Bemerkung zu einer der wartenden Frauen. Homer konnte die Bemerkung nicht hören, stellte aber fest, daß sie die wartenden Frauen wie ein kalter Windstoß von der Kutsche zurücktrieb. Die Frauen, die in die Kutsche einstiegen, blickten sich weder um, noch blickten sie einander an. Sie sprachen nicht einmal miteinander, und der Fahrer, den Homer stets als freundlichen Mann gekannt hatte, der zu jedem etwas zu sagen wußte, bei jedem Wetter, hatte kein freundliches Wort für sie. Die Kutsche wendete einfach und glitt durch den Schnee zum Bahnhof; in den erleuchteten Fenstern sah Homer Wells, daß etliche der Frauen ihr Gesicht in den Händen bargen oder versteinert dasaßen, wie manche Trauernde bei einem Begräbnis – die völlige Teilnahmslosigkeit

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