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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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wollten wir die Schattenseiten des Lebens als Probleme betiteln. Hier in St. Cloud’s haben wir nur ein Problem. Sein Name ist Homer Wells. Bei Homer hatten wir Erfolg: Es ist uns gelungen, das Waisenhaus zu seinem Zuhause zu machen, und eben dies ist das Problem. Wenn man versucht, einer staatlichen oder anderen öffentlichen Institution etwas von jener Liebe zu schenken, die in eine Familie investiert werden sollte – und wenn diese Institution ein Waisenhaus ist und es gelingt einem, ihm Liebe zu schenken –, wird man ein Monstrum schaffen: ein Waisenhaus, das nicht Zwischenstation ist zu einem besseren Leben, sondern ein Waisenhaus, das die erste und letzte Station ist, der einzige Ort, den die Waise je akzeptieren wird.
    Es gibt keine Entschuldigung für Grausamkeit, doch – in einem Waisenhaus – sind wir womöglich verpflichtet, Liebe vorzuenthalten. Wenn man es in einem Waisenhaus versäumt, Liebe vorzuenthalten, wird man ein Waisenhaus schaffen, das keine Waise von sich aus verläßt. Man wird einen Homer Wells schaffen – eine wahre Waise, weil sein einziges Zuhause immer St. Cloud’s sein wird. Gott (oder wer immer) verzeihe mir. Ich habe eine Waise geschaffen; ihr Name ist Homer Wells, und er wird immer nach St. Cloud’s gehören.«
    Als Homer zwölf war, hatte er das Sagen im Haus. Er kannte seine Öfen und seine Holzkästen, seine Sicherungsboxen und seine Wäschetruhen, die Wäscherei, die Küche, die Winkel, wo die Katzen schliefen – er wußte, wann Post kam und wer welche bekam, wußte, wer in welcher Schicht arbeitete und wie er hieß; wußte auch, wohin die Mütter zum Rasieren gingen, wenn sie eintrafen, wie lange die Mütter blieben, wann sie gingen – ob und mit welcher Hilfe. Er kannte die Glocken und läutete sie. Er wußte, wer die Hauslehrer waren; er erkannte sie an ihrem Gang, wenn sie vom Bahnhof kamen, schon aus zweihundert Meter Entfernung. Er war sogar in der Mädchenabteilung bekannt, obwohl die wenigen Mädchen, die älter waren als er, ihm angst machten und er möglichst wenig Zeit dort verbrachte – nur, um Aufträge für Dr. Larch zu erledigen, um Nachrichten und Arzneien zu überbringen. Die Leiterin der Mädchenabteilung war keine Ärztin, und wenn die Mädchen erkrankten, gingen sie entweder zu Dr. Larch ins Spital, oder Dr. Larch kam zu ihnen in die Mädchenabteilung. Die Leiterin der Mädchenabteilung war eine Bostoner Irin und hatte einige Zeit im Neuengland-Heim für kleine Landstreicher gearbeitet. Sie hieß Mrs. Grogan, obwohl sie nie einen Mr. Grogan erwähnte und niemand, der sie sah, sich so leicht vorstellen konnte, daß es je einen Mann in ihrem Leben gegeben hatte. Vielleicht gefiel ihr der Klang von Missus besser als der Klang von Miss. Im Neuengland-Heim für kleine Landstreicher hatte sie der Gemeinschaft der Kleinen Dienerinnen Gottes angehört, was Dr. Larch stutzig machte. Aber Mrs. Grogan machte keine Anstalten, in St. Cloud’s Mitglieder für eine solche Gemeinschaft zu werben; vielleicht war sie zu beschäftigt – neben ihren Pflichten als Leiterin der Mädchenabteilung war sie verantwortlich dafür, das wenige an Bildung zu verwalten, das für die Waisen verfügbar war.
    Wenn es eine Waise gab, die über die sechste Schulklasse hinaus in St. Cloud’s blieb, gab es keine Schule mehr, die sie hätte besuchen können – und die einzige Schule für die Klassen eins bis sechs war in Three Mile Falls; es war mit dem Zug nur eine Station von St. Cloud’s entfernt, aber 193– hatten die Züge oft Verspätung, und der Donnerstags-Lokomotivführer war bekannt dafür, daß er im Bahnhof von St. Cloud’s zu halten vergaß (als habe der Anblick so vieler verlassener Bauten ihn überzeugt, daß St. Cloud’s immer noch eine Geisterstadt sei, oder als mißbilligte er die Frauen, die hier aus dem Zug stiegen).
    Die Mehrzahl der Schüler in der Dorfschule von Three Mile Falls dünkte sich den sporadisch anwesenden Waisen überlegen; am allerüberlegensten aber fühlten sich jene Schüler, die aus Familien stammten, wo sie vernachlässigt oder mißhandelt wurden, oder beides, und darum bestanden die Schulklassen eins bis sechs für Homer aus Erlebnissen eher kämpferischer denn erzieherischer Art. Jahrelang fehlte er an drei von vier Donnerstagen und mindestens einen weiteren Wochentag, weil der Zug Verspätung hatte; im Winter versäumte er einen Tag die Woche, weil er krank war. Und wenn zuviel Schnee lag, fuhren die Züge nicht.
    Die drei Hauslehrer

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