Gottes Werk und Teufels Beitrag
Sinnsprüchen wimmelten, beschwerte er sich doch nicht. Wenn Professor Drapers Studenten und seine Kollegen von der Historischen Fakultät den Professor auch für einen geschwätzigen Langweiler hielten – und vor ihm Reißaus nahmen wie Hasen vor dem langsamen, aber gründlich schnüffelnden Jagdhund –, konnten sie Homers Meinung über diese erste Vaterfigur seines Lebens, die es mit Dr. Larch aufnahm, doch nicht beeinflussen.
Homers Ankunft in Waterville wurde mit einer Aufmerksamkeit begrüßt, wie der Junge sie niemals kennengelernt hatte. Schwester Angela und Schwester Edna waren Helferinnen in der Not, und Dr. Larch war ein liebevoller, wenn auch zerstreuter Armenvogt. Mrs. Draper aber war eine Mom; sie war die Mami aller Mamis; sie war eine Glucke. Sie war auf, bevor Homer wach wurde; die Plätzchen, die sie buk, während er sein Frühstück aß, waren mittags, wie durch ein Wunder, in seinem Vesperbeutel noch warm. Mom Draper wanderte mit Homer zur Schule – sie gingen über Land und verschmähten die Straße, weil es Mom guttat.
Nachmittags holte Professor Draper Homer auf dem Pausenhof ab – wie durch Zauberei schien der Schulschluß zeitlich mit des Professors letzter Vorlesung am College zusammenzufallen –, und dann trotteten die beiden nach Hause. Im Winter, der in Waterville früh hereinbrach, war es ein buchstäbliches Trotten – auf Schneeschuhen, deren Beherrschung der Professor auf eine Stufe stellte mit der Kunst des Lesens und Schreibens.
»Übe den Körper, übe den Geist, Homer«, sagte der Professor.
Man sieht ohne weiteres, wieso der Mann Wilbur Larch beeindruckte. Er vertrat energisch das Nützlichkeitsprinzip.
In Wahrheit liebte Homer diese Routine, dieses Trott-Trott-Trott, diese äußerste Vorhersagbarkeit. Eine Waise ist einfach mehr Kind als andere Kinder, in ihrer grundsätzlichen Dankbarkeit für all die Dinge, die tagtäglich wiederkehren, wie nach Fahrplan. Auf alles, was zu bleiben, sich gleichzubleiben verspricht, fällt die Waise herein.
Dr. Larch führte die Knabenabteilung mit so vielen simulierten Beweisen alltäglicher Normalität, wie man sie in einem Waisenhaus eben aufrechterhalten kann. Die Mahlzeiten wurden pünktlich serviert, jeden Tag zur gleichen Zeit. Dr. Larch las jeden Abend vor, immer zur gleichen Zeit ein gleich langes Stück, auch wenn dies bedeutete, ein Kapitel mitten im Abenteuer abzubrechen, während die Jungen »Mehr! Mehr!« riefen und: »Lesen Sie doch nur noch, was als nächstes passiert!«
Und Dr. Larch sagte immer: »Morgen, zur gleichen Stunde, am gleichen Ort.« Es gab Seufzer der Enttäuschung, aber Larch wußte, er hatte ein Versprechen gegeben; er hatte eine Routine eingeführt. »Hier in St. Cloud’s«, schrieb er in sein Tagebuch, »messen wir Sicherheit an der Zahl der gehaltenen Versprechen. Jedes Kind versteht ein Versprechen – falls es gehalten wird – und freut sich schon auf das nächste Versprechen. Bei Waisen baut man Sicherheit langsam, aber regelmäßig auf.«
»Langsam, aber regelmäßig«, so läßt sich das Leben beschreiben, das Homer Wells bei den Drapers in Waterville führte. Jede Tätigkeit war eine Lektion; jeder Winkel des gemütlichen alten Hauses barg etwas, was man kennenlernen – und worauf man fortan zählen konnte.
»Das ist Rufus. Er ist sehr alt«, sagte der Professor und machte Homer mit dem Hund bekannt. »Das ist Rufus’ Teppich, er ist sein Königreich. Wenn Rufus auf seinem Teppich schläft, darfst du ihn nicht wecken – wenn du nicht darauf gefaßt sein willst, daß er schnappt.« Worauf der Professor den betagten Hund wachrüttelte, der schnappend erwachte – und dann in die Luft staunte, die er gebissen hatte und in der er die erwachsenen Kinder der Drapers witterte, die nun verheiratet waren und selbst wieder Kinder hatten.
Homer lernte sie alle an Thanksgiving kennen. Erntedank bei den Drapers war ein Familienereignis, das jeder anderen Familie garantiert Minderwertigkeitskomplexe bereitet hätte. Mom übertraf sich selbst an Mamihaftigkeit. Der Professor hielt über jedes nur denkbare Thema eine Vorlesung: über die Qualitäten von weißem Fleisch gegenüber rotem, über die letzten Wahlen, über den Snobismus von Salatgabeln, die Überlegenheit des Romans im neunzehnten Jahrhundert (ganz zu schweigen von anderen Aspekten der Überlegenheit jenes Jahrhunderts), die richtige Konsistenz von Preiselbeermarmelade, die Bedeutung von »Buße«, die Bekömmlichkeit körperlicher
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