Gottes Werk und Teufels Beitrag
»Sonnenstrahl« Wells, die Mrs. Grogan tief berührte.
Sie beide hatten auch kein Glück mit der Lektüre von Klein Dorrit. Mrs. Grogan sollte nie über das schändliche Gefängnis hinauskommen; die sengende Sonne in Marseille starrte auf sie nieder und blendete allzu mächtig. Dr. Larch, der in Homer Wells’ und Melonys Abwesenheit seine Pflichten als abendlicher Vorleser in der Knaben- wie in der Mädchenabteilung wiederaufnahm, versuchte den Mädchen aus Klein Dorrit vorzulesen; war nicht die Hauptfigur ein Mädchen? Doch der Gegensatz zwischen der sonnenversengten Luft von Marseille und dem Moderhauch im Gefängnis ließ die Mädchen so schlaflos werden, daß Larch erleichtert war, als er das Buch beim dritten Kapitel aus der Hand legen konnte. Es trug den für Waisen unglücklichen Titel »Daheim« und fing an mit einer Schilderung Londons an einem Sonntagabend – gehetzt von Kirchenglocken.
»Schwermütige Straßen in einem Büßergewand von Kohlenruß«, las Dr. Larch, und dann hielt er inne; wir brauchen hier nicht noch mehr Traurigkeit, dachte er.
»Wollen wir hier nicht lieber eine Pause machen und noch einmal Jane Eyre lesen?« fragte Dr. Larch; die Mädchen nickten eifrig.
Da der schöne Junge mit dem Gesicht eines Wohltäters offenbar eine Mutter hatte mit einem Herzen, das jenen wohlwollte, die (wie sie selbst geschrieben hatte) in »weniger privilegierten Verhältnissen« lebten, schrieb Dr. Larch an Olive Worthington. Meine liebe Mrs. Worthington, Wir hier in St. Cloud’s hängen sehr an unserem kargen Luxus und glauben (und beten), daß er uns für immer erhalten bleibe. Wären Sie doch so freundlich, Homer zu sagen, daß seine Freundin Melony uns verlassen hat – ihr Aufenthalt ist unbekannt – und daß sie unser einziges Exemplar von Jane Eyre mitgenommen hat. Die Waisen in der Mädchenabteilung waren es gewöhnt, abends aus diesem Buch vorgelesen zu bekommen – von Homer, um genau zu sein. Falls Homer ein Ersatzexemplar auftreiben könnte, würden die kleinen Mädchen und ich ihm ewig zu Dank verpflichtet sein. In anderen Teilen der Welt gibt es Buchhandlungen …
Hiermit hatte Larch, wie er wußte, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Olive Worthington selbst würde ihm eine Ersatz-Jane Eyre schicken (er bezweifelte sehr, daß es ein gebrauchtes Exemplar sein würde), und Homer würde die wichtige Nachricht erhalten: Melony war los, losgelassen auf die Welt. Larch dachte, daß Homer das wissen sollte, daß er vielleicht die Augen nach ihr offenhalten wollte.
Schwester Edna las Melonys Widmung in Klein Dorrit und weinte. Sie war keine große Leserin, diese Edna; sie drang nicht weiter vor als bis zu der Widmung. Schwester Angela hatte bereits vor Dickens die Waffen gestreckt; sie blinzelte einmal kurz in die Sonne von Marseille und vergaß, die Seite umzublättern.
Jahrelang sollte Candys ungelesenes Exemplar in Schwester Angelas Büro liegen. Leute, die nervös auf eine Unterredung mit Dr. Larch warteten, pflegten Klein Dorrit in die Hand zu nehmen, wie sie nach einer Zeitschrift greifen würden – fahrig, unaufmerksam. Selten ließ Larch jemanden über das erste Sengen der Sonne hinaus warten, und die meisten zogen es vor, das merkwürdige Sortiment von Katalogen durchzublättern. Die Sämereien, die Angelausrüstung, die wunderliche Unterwäsche – letztere vorgeführt als unheimliche Modenschau: an jenen kopflosen, beinlosen, armlosen Stümpfen, die als Vorläufer unserer heutigen Standardschneiderpuppen damals gebräuchlich waren.
»Anderswo auf der Welt«, begann Dr. Larch einmal, »hat man Stillbüstenhalter.« Doch dieser Gedanke führte ihn nirgendwohin; er fiel als Fragment zwischen die vielen, vielen Blätter der Kurzen Geschichte von St. Cloud’s.
Klein Dorrit schien zu einem ungelesenen Leben verurteilt. Selbst Candy, die Ersatz fand für ihr gestohlenes Exemplar (und sich stets fragte, wo es wohl abgeblieben war), sollte das Buch nie zu Ende lesen, obwohl es in ihrer Klasse Pflichtlektüre war. Auch sie vermochte nicht über den ersten Ansturm der Sonne auf ihre Sinne hinauszusteuern; ihre Schwierigkeiten mit dem Buch schienen ihr mit seiner Macht zusammenzuhängen, sie an ihre Unannehmlichkeiten auf der langen Reise nach und von St. Cloud’s zu erinnern – und daran, wie es ihr dort ergangen war.
Ganz besonders erinnern sollte sie sich an die Fahrt zurück zur Küste, wie sie ausgestreckt auf dem Rücksitz lag und nur die Armaturenbeleuchtung des
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