Gottes Werk und Teufels Beitrag
starrenden, lodernden Sonne in Marseille – der bedrückende Glanz – war ebenso verwirrend wie rätselhaft für Melony. Was wußte sie schon, was ihr hätte helfen können, eine Sonne von solcher Helligkeit zu begreifen? Und das Zusammentreffen von so viel Sonnenstrahl (eingedenk ihres Spitznamens für Homer Wells) war zuviel für sie. Sie las, verirrte sich, fing wieder an, verirrte sich wieder; und wurde nur immer wütender.
Dann kramte sie in ihrem Stoffbeutel mit Toilettenartikeln und sah, daß die horngeränderte Haarspange, die Mary Agnes Candy gestohlen hatte – und die Melony aus Mary Agnes’ Haar gerissen und an sich genommen hatte –, wieder gestohlen war. Sie marschierte zu Mary Agnes Corks Bett und fischte die elegante Haarspange unter ihrem Kopfkissen hervor. Melonys Haar war zu kurz geschoren, als daß sie die Haarspange hätte verwenden können, doch so ganz im klaren war sie sich über deren Verwendung sowieso nicht. Sie stopfte sie in die Tasche ihrer knallengen Jeans, und es pikste ein bißchen. Sie ging in den Duschraum der Mädchen, wo Mary Agnes Cork sich gerade die Haare wusch, und drehte das heiße Wasser so auf, daß Mary Agnes beinah verbrüht wurde. Mary Agnes stürzte sich aus der Dusche; rot und zappelnd lag sie am Boden, wo Melony ihr den Arm hinter den Rücken verdrehte und dann mit ihrem ganzen Gewicht auf Mary Agnes’ Schulterblatt trat. Melony hatte ihr nichts brechen wollen; sie war angewidert von dem Geräusch, das Mary Agnes’ nachgebendes Schlüsselbein machte, und sie trat rasch zurück von dem jüngeren Mädchen, dessen nackter Körper sich von sehr rot zu sehr weiß verfärbte. Sie lag auf dem Boden des Duschraums, zitternd und stöhnend, und wagte sich nicht zu bewegen.
»Zieh dich an, ich bringe dich ins Spital«, sagte Melony. »Du hast etwas gebrochen.«
Mary Agnes zitterte. »Ich kann mich nicht bewegen«, flüsterte sie.
»Das hab ich nicht gewollt«, sagte Melony, »aber ich hab dir gesagt, bleib weg von meinem Kram.«
»Deine Haare sind viel zu kurz«, sagte Mary Agnes. »Du kannst sie sowieso nicht tragen.«
»Willst du, daß ich dir noch etwas breche?«
Mary Agnes versuchte den Kopf zu schütteln und hielt sofort inne. »Ich kann mich nicht bewegen«, wiederholte sie. Als Melony sich bückte, um ihr aufzuhelfen, kreischte Mary Agnes: »Faß mich nicht an.«
»Mach, was du willst«, sagte Melony und ließ sie liegen. »Bleib nur weg von meinem Kram.«
Im Vorraum der Mädchenabteilung, unterwegs zu ihrem Treffen mit Dr. Larch, erzählte Melony Mrs. Grogan, daß Mary Agnes »etwas gebrochen« habe. Mrs. Grogan nahm natürlich an, daß Melony meinte, Mary Agnes habe eine Lampe zerbrochen, oder ein Fenster oder sogar ein Bett.
»Wie gefällt dir das Buch, meine Liebe?« wollte Mrs. Grogan von Melony wissen, die immer noch Klein Dorrit bei sich trug; sie war nicht über die erste Seite hinausgekommen.
»Fängt irgendwie langweilig an«, sagte Melony.
Als sie in Schwester Angelas Büro ankam, wo Dr. Larch auf sie wartete, war sie leicht außer Atem und schwitzte.
»Was ist das für ein Buch?« fragte Dr. Larch.
»Klein Dorrit, von Charles Dickens«, sagte Melony; sie spürte, wie die Haarspange sie ins Bein stach, als sie sich hinsetzte.
»Woher hast du es?« fragte Dr. Larch.
»Es war ein Geschenk«, sagte Melony, und das war nicht einmal gelogen.
»Wie schön«, sagte Wilbur Larch.
Melony zuckte die Schultern. »Fängt irgendwie langweilig an«, sagte sie.
Sie musterten einander eine Weile vorsichtig. Larch lächelte etwas. Melony versuchte zu lächeln, aber sie war sich unsicher, wie das auf ihrem Gesicht aussah – und so ließ sie es wieder sein. Sie rutschte auf dem Stuhl herum; die Haarspange in ihrer Tasche tat ihr ein bißchen weniger weh.
»Er kommt nicht zurück, nicht wahr?« fragte Melony Dr. Larch, der sie mit einer Mischung aus Respekt und Mißtrauen betrachtete und sich wohl fragte, ob sie seine Gedanken lesen konnte.
»Er hat einen Sommerjob«, sagte Dr. Larch. »Natürlich kann sich danach noch etwas anderes ergeben.«
Melony zuckte die Schultern. »Er könnte zur Schule gehen, nehme ich an«, sagte sie.
»Oh, ich hoffe es«, sagte Larch.
»Sie wollen bestimmt, daß er Arzt wird«, sagte Melony.
Larch zuckte die Schultern. Jetzt war es an ihm, Gleichmut vorzutäuschen. »Falls er das will.«
»Ich habe einmal jemand den Arm gebrochen«, sagte Melony. »Oder vielleicht war es etwas im Brustkorb.«
»Im Brustkorb?« fragte
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