Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
aber die Möwen und Krähen waren schlau genug, unter den Netzen hindurchzuspazieren.
    Unter Waisen, dachte Homer Wells, sind die Möwen den Krähen überlegen – nicht an Intelligenz oder Charakter, wie er beobachten konnte, sondern weil sie frei sind und die Freiheit lieben. Als Homer Wells den Seemöwen zusah, kam ihm zum erstenmal in den Sinn, daß er frei war.
    Wilbur Larch wußte, daß Freiheit die gefährlichste Illusion war für eine Waise, und als er endlich von Homer hörte, überflog er den sonderbar förmlichen und in seinem Mangel an Einzelheiten enttäuschenden Brief. In bezug auf Illusionen und alles übrige gab es einfach keinen Anhaltspunkt. »Ich lerne schwimmen«, schrieb Homer Wells. (Ich weiß! Ich weiß! Erzähle mir davon! dachte Wilbur Larch.) »Im Auto fahren bin ich besser«, fügte Homer Wells hinzu.
    »Mrs. Worthington ist sehr nett.« (Das hätte ich erraten können!, dachte Wilbur Larch.) »Sie weiß alles über Äpfel.«
    »Auch Candys Vater ist sehr nett«, schrieb Homer an Dr. Larch. »Er nimmt mich mit hinaus in seinem Hummerboot, und er zeigt mir, wie ein Motor funktioniert.« (Trägst du eine Rettungsweste in dem Hummerboot? wollte Wilbur Larch wissen. Meinst du, ein Motor sei etwas so Besonderes? Ich könnte dir zeigen, wie das Herz funktioniert, dachte Wilbur Larch – während sein eigenes ihm etwas über ihn selber zeigte, und zwar viel mehr als nur seine Muskelfunktion.)
    »Candy und Wally sind wunderbar!« schrieb Homer. »Ich fahre überallhin mit ihnen. Ich schlafe in Wallys Zimmer. Ich trage seine Kleider. Es ist fabelhaft, daß wir gleich groß sind, obwohl er kräftiger ist. Candy und Wally werden eines Tages heiraten, und sie wollen viele Kinder haben.« (Erzähle mir von den Schwimmlektionen, dachte Wilbur Larch. Sei vorsichtig bei den Schwimmlektionen.)
    »Armer Mr. Worthington – alle nennen ihn Senior«, schrieb Homer. (Ah-ha! dachte Wilbur Larch. Also doch etwas, das nicht perfekt ist, oder? Was ist so »arm« an Mr. Worthington?)
    Er fragte Schwester Angela und Schwester Edna, wie ihnen der Name »Senior« vorkäme. Sie fanden ihn auch ungewöhnlich.
    »Für mich klingt er blöde«, sagte Wilbur Larch.
    Schwester Angela und Schwester Edna hielten ihm vor, er wäre ungerecht. Der Junge sei mit seinem Segen fortgegangen – mehr noch, er habe ihn dazu ermuntert. Sie fanden auch, Homer hätte früher schreiben können und den Brief früher abschicken als nach sechs Wochen, aber sie wandten ein, daß dies nur beweise, wie glücklich er sei – wie tätig, und auch wie froh, tätig zu sein. Und welche Erfahrung hatte Homer Wells denn schon im Briefeschreiben, oder im Schreiben überhaupt? wollten sie wissen.
    »Sie wollen, daß er Arzt wird, Wilbur«, sagte Schwester Edna, »aber es ist sein Leben.«
    »Erwarten Sie, daß er auch Schriftsteller wird?« fiel Schwester Angela ein.
    »Und niemals heiratet?« fragte Schwester Edna bedrohlich.
    Ich erwarte von ihm, daß er sich nützlich macht, dachte Wilbur Larch erschöpft. Und ich möchte, daß er bei mir ist; dieser letzte Wunsch, das wußte er, war unfair. In der Apotheke ruhte er sich aus von der Sommerhitze. All das Glas und der Stahl wirkten irgendwie kühlend, und die Ätherdämpfe verdunsteten langsamer in der Feuchtigkeit. Er schien jetzt weiter fort und auch länger zu reisen in seinen Ätherträumen. Wenn er aus dem Äther auftauchte, schien er langsamer aufzutauchen. Ich werde alt, sagte er sich immer wieder.
    Ein wunderschönes und unberührtes Exemplar Jane Eyre traf ein von Mrs. Worthington, und Wilbur Larch las den Mädchen wieder voller Schwung vor – die Neuheit der Erzählung erfrischte ihn. Sie ließ ihn sogar seine griesgrämige Einstellung zu dem traurigen Schluß von Große Erwartungen revidieren. (Den Abschnitt, wo es darum ging, daß Pip und Estella glücklich würden für immer, hatte er nie geglaubt; das glaubte er von niemandem.)
    Allmählich pendelten sich im Briefverkehr zwischen Wilbur Larch und Homer Wells gewisse Regeln ein. Homer pflegte die nackten Fakten seines Lebens in Heart’s Rock und Heart’s Haven zu skizzieren; er gab Dr. Larch einen flüchtigen Einblick, fern wie die Sicht auf den Ozean von dem einzigen Obstgarten von ganz Ocean View, der den Ausblick aufs Meer erlaubte. Er sandte Dr. Larch eine Seite, manchmal zwei, einmal pro Woche oder alle zwei Wochen. Auf diesen Punkt am Horizont antwortete Dr. Larch mit dem vollen Instrumentarium des geschriebenen Wortes: mit Fragen

Weitere Kostenlose Bücher