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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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die Nacht und ihr Beschützer vor dem, was immer dort liegen mochte – jenseits der Scheinwerfer.
    »Na, Kumpel«, sagte Wally zu dem schlafenden Homer Wells, »es wird höchste Zeit, daß du ein bißchen Spaß hast.«
    Fast einen Monat später – er wartete immer noch auf Nachricht von Homer Wells und war nach wie vor zu stolz, den ersten Brief zu schreiben – fragte sich Wilbur Larch, welchen »Spaß« Homer haben mochte. Schwimmlektionen! dachte er. Was zieht man an zum Schwimmen in einem beheizten Becken? Wie beheizen sie das Becken, und wie warm mag das Wasser dann sein?
    Damals, 194–, war das Becken im Haven Club der erste beheizte Swimmingpool von Maine. Obwohl Raymond Kendall es lächerlich fand, Wasser zu anderen Zwecken zu erhitzen als zum Kochen und zum Baden, hatte er ein Heizsystem für das Becken im Haven-Club erfunden. Für Ray war es eine kleine Fingerübung in Mechanik.
    »Wenn du im Meer schwimmen lernst«, sagte Ray zu Homer, »wirst du lernen, mit dem Körper richtig zu reagieren auf das viele Wasser.«
    »Aber du kannst nicht schwimmen, Daddy«, sagte Candy.
    »Das meine ich doch«, sagte Ray und zwinkerte Homer Wells zu. »Du brauchst nur einmal einen Fuß ins Meer zu setzen oder hineinzufallen, dann wirst du vernünftig genug sein, nie wieder den Fuß hineinzusetzen – es ist zu kalt.«
    Homer mochte Candys Vater, vielleicht weil die Chirurgie die Mechanik der Medizin ist und weil Homer Wells sehr früh in seinem Leben einiges über Chirurgie gelernt hatte. Er konnte sich augenblicklich identifizieren mit den Maschinen, mit denen Ray Kendall arbeitete, sowohl mit den Geräten auf der Apfelfarm wie mit den Apparaturen, die dazu dienten, die Hummer heraufzuziehen und sie am Leben zu erhalten.
    Im Gegensatz zu Wallys Verheißung hinsichtlich des Humors der Hummer war Homer wenig belustigt bei seinem ersten Anblick dieser Geschöpfe. Sie waren zusammengepfercht in Ray Kendalls Hummerbassin, krabbelten mit ihren fest zusammengeklemmten Zangen übereinander und fuchtelten unter Wasser damit herum wie mit wirkungslosen Keulen. Homer hatte einen guten Grund gesehen für das Schwimmenlernen: Wenn man ins Meer fiel, wollte man lieber nicht bis auf den Boden sinken, wo diese Geschöpfe lebten. Es dauerte eine Weile, bis Homer erfuhr, daß die Hummer den Meeresboden nicht in der gleichen Dichte bevölkerten, wie sie den Tank bewohnten. Die erste Frage, die ihm in den Sinn kam, bezog sich nicht darauf, wie ein Hummer fraß oder sich fortpflanzte, sondern wozu er überhaupt lebte.
    »Es muß jemand geben, der aufsammelt, was herumliegt«, klärte Ray Kendall Homer auf.
    »Er ist das Müllmonster des Meeresbodens«, sagte Wally lachend – er lachte immer, wenn er über Hummer sprach.
    »Die Seemöwe putzt die Küste«, sagte Ray Kendall. »Der Hummer macht den Boden sauber.«
    »Hummer und Seemöwen«, sagte Candy. »Sie nehmen, was übrigbleibt.«
    Wilbur Larch hätte anmerken können, daß sie das bekamen, was sonst den Waisen zustand. Auch Homer Wells dachte daran, und er stellte fest, daß er seine Zeit damit verbringen konnte, die Hummer zu beobachten, zwar mit Furcht, die Seemöwen hingegen mit Freude – daß er jedenfalls beide mit Ehrfurcht und Respekt beobachtete.
    Jahre später sollte Olive Worthington, als sie stolze Besitzerin des ersten Fernsehgeräts in Heart’s Rock wurde, erklären, daß Homer Wells der einzige Mensch sei, der jemals einen Stuhl herangezogen und sich vor den Hummertank in Ray Kendalls Hummerbassin gesetzt hatte, »als schaute er Nachrichten im Fernsehen«.
    Sonntags zog Homer mit Candys Vater Hummer herauf – nicht gegen Entgelt, sondern um draußen auf dem Wasser und mit Ray zusammenzusein. An den sechs Werktagen arbeitete Homer mit Wally in den Obstgärten. Der Ozean war nur von einem der vielen Obstgärten von Ocean View aus zu sehen, aber spüren konnte man die Nähe des Meeres überall auf der Farm, besonders im frühmorgendlichen Nebel und wenn eine Seebrise die Sommerhitze erfrischte – und wegen der Seemöwen, die landeinwärts kreisten und manchmal in den Bäumen hockten. Noch lieber als über die Äpfel machten sie sich über die Blaubeeren her, doch ihre Gegenwart war ein ständiges Ärgernis für Olive, die seit ihrer frühen Kindheit zwischen lauter Muscheln nichts übrig hatte für die heiseren Vögel, die mit den Krähen um das kleine Blaubeerbeet zankten, das sie angepflanzt hatte – die Blaubeeren wurden mit niedrig hängenden Netzen geschützt,

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