Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Schwester Edna und Mrs. Grogan herumstanden und Schwester Angela Mary Agnes zum Röntgen wegbrachte. Als Larch sie alle versammelt sah, fiel ihm auf, wie alt und gebrechlich er und seine Mitarbeiterinnen neben Melony aussahen. »Möchtest du vielleicht mithelfen beim Einrichten eines gebrochenen Schlüsselbeins, Melony?« fragte Larch die stämmige und imposante junge Frau.
    »Nööö«, sagte Melony. »Hab zu tun.« Sie schwenkte – ein wenig drohend – das Exemplar von Klein Dorrit. »Und ich muß nachsehen, was ich heute abend vorlesen werde.«
    Sie kehrte in die Mädchenabteilung zurück und setzte sich an ihr Fenster, während Dr. Larch Mary Agnes’ Schlüsselbein einrichtete. Melony versuchte noch einmal, die Macht der Sonne von Marseille zu begreifen.
    »Selbst der Staub war braun gebrannt«, las sie sich selber vor, »und es lief ein Zittern durch die Atmosphäre, als ob die Luft vor Hitze ächzte.« Oh, Sonnenstrahl, dachte sie, warum hast du mich nicht mitgenommen, irgendwohin? Es hätte nicht Frankreich sein müssen, obwohl das hübsch gewesen wäre.
    Sie träumte, während sie las, und verpaßte den Übergang vom allumfassenden Sengen der Sonne in Marseille zur dortigen Gefängnisatmosphäre. Plötzlich fand sie sich im Gefängnis wieder. »Alles trug den Stempel des Kerkers …«, las sie. »Wie ein Brunnen, ein Kellergewölbe, eine Gruft wußte der Kerker nichts von dem hellen Sonnenschein draußen …« Sie hörte auf zu lesen. Sie ließ Klein Dorrit auf ihrem Kopfkissen liegen. Sie streifte einen Kopfkissenbezug von einem Bett, das ordentlicher war als ihres, und in den Kopfkissenbezug stopfte sie ihren Stoffbeutel mit Toilettenartikeln und ein paar Kleidungsstücke. Sie stopfte auch Jane Eyre in den Sack. In Mrs. Grogans ziemlich spartanischem Zimmer fand Melony mühelos den Geldbeutel, stahl Mrs. Grogan ihr Geld (was nicht viel war) und nahm auch Mrs. Grogans schweren Wintermantel mit (im Sommer würde der Mantel nützlich sein, wenn sie auf dem Erdboden schlafen mußte). Mrs. Grogan war immer noch im Spital und um Mary Agnes Corks Schlüsselbein bemüht; Melony hätte Mrs. Grogan gerne Lebewohl gesagt (sogar nachdem sie sie bestohlen hatte), aber sie wußte den Zugfahrplan aus dem Kopf – tatsächlich wußte sie ihn aus dem Ohr; das Geräusch jeder Ankunft und Abfahrt drang an ihr Fenster.
    Am Bahnhof kaufte sie bloß eine Fahrkarte bis Livermore Falls. Sie wußte, daß sogar der neue und dumme junge Bahnhofsvorsteher fähig sein würde, sich daran zu erinnern, und Dr. Larch und Mrs. Grogan erzählen würde, daß Melony nach Livermore Falls gefahren war. Sie wußte auch, daß sie sich im Zug eine Karte bis zu einem viel weiter entfernten Ort als Livermore Falls kaufen konnte. Kann ich mir Portland leisten? fragte sie sich. Die Küste war es, die sie letzten Endes würde erforschen müssen – denn unter dem goldenen Monogramm auf jenem Roten-Delicious-Apfel des Cadillac, aufgeprägt (ebenfalls in Gold) auf das leuchtendgrüne Apfelblatt im Hintergrund, hatte sie gelesen ocean view orchards. Das mußte in Sichtweite der Küste sein, und der Cadillac hatte ein Nummernschild aus Maine. Es machte Melony nichts aus, daß es im Staate Maine einige tausend Meilen Küste gab. Während ihr Zug aus St. Cloud’s davonrollte, sagte Melony zu sich selbst – so leidenschaftlich, daß ihr Atem das Fenster beschlug und die verlassenen Gebäude in dieser vergessenen Stadt vor ihrem Blick verhüllte –: »Ich werde dich finden, Sonnenstrahl.« 
     
    Dr. Larch versuchte Mrs. Grogan zu trösten, die immer nur wünschte, sie hätte mehr Geld zum Stehlen für Melony dagehabt. »Und mein Mantel ist nicht imprägniert«, jammerte Mrs. Grogan. »Sie sollte einen richtigen Regenmantel haben in diesem Staat.«
    Dr. Larch versuchte Mrs. Grogan zu beruhigen. Er versicherte ihr, daß Melony kein kleines Mädchen mehr sei. »Sie ist vierundzwanzig oder fünfundzwanzig«, erinnerte Larch Mrs. Grogan.
    »Ich glaube, ihr Herz ist gebrochen«, sagte Mrs. Grogan kläglich.
    Dr. Larch wies darauf hin, daß Melony Jane Eyre mitgenommen hatte; er nahm das als hoffnungsvolles Zeichen – wohin Melony auch immer ging, sie würde nicht ohne Führung, nicht ohne Liebe sein, ohne Vertrauen. Sie hatte ein gutes Buch bei sich. Wenn sie es nur immer wieder lesen und es noch einmal lesen wollte, dachte Larch.
    Das Buch, das Melony zurückgelassen hatte, war ein Rätsel für Mrs. Grogan und für Dr. Larch. Sie lasen die Widmung für Homer

Weitere Kostenlose Bücher