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Gottes Werk und Teufels Beitrag

Gottes Werk und Teufels Beitrag

Titel: Gottes Werk und Teufels Beitrag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Waisen handelte. (»Was, zum Teufel, sollte man Waisen auch sonst vorlesen?« fragte Dr. Larch in seinem Tagebuch.)
    Daher war Homer Wells wohlvertraut mit dem Bild jenes Galgens in den Themsemarschen – »mit Ketten daran hangend, die einst einen Seeräuber festhielten« –, und Homers Vorstellung von Pip, dem Waisenjungen, und von Magwitch, dem Sträfling … und von der schönen Estella, der rachsüchtigen Miss Havisham … lieferte ihm die Details, wenn er im Einschlafen den geisterhaften Müttern folgte, die im Schutz der Dunkelheit St. Cloud’s verließen, um in den pferdegezogenen Kutschwagen einzusteigen, oder später in den Bus, der die Kutsche ablöste und Homer ein erstes Gefühl vom Vergehen der Zeit gab, vom Fortschritt. Nachdem der Bus die Kutsche abgelöst hatte, wurde aller Busverkehr nach St. Cloud’s eingestellt. Danach gingen die Mütter zu Fuß. Dies gab Homer eine noch tiefere Einsicht in den Fortschritt.
    Die Mütter, die er im Schlaf sah, veränderten sich nie. Aber die Männer, die sich nicht die Mühe gemacht hatten, sie nach St. Cloud’s zu begleiten – wo waren sie? Homer liebte die Stelle in Große Erwartungen, wo Pip gerade aufgebrochen ist und sagt: »Feierlich stiegen die Nebel alle … und die Welt lag vor mir ausgebreitet.« Ein Junge aus St. Cloud’s wußte über »die Nebel« ausreichend Bescheid – sie waren es, die den Fluß verhüllten, die Stadt und das Waisenhaus selbst; sie trieben von Three Mile Falls den Fluß herab; sie verbargen einem die eigenen Eltern. Sie waren die Wolken von St. Cloud’s, die es den eigenen Eltern erlaubten, sich ungesehen davonzustehlen.
    »Homer«, pflegte Dr. Larch zu sagen, »eines Tages wirst du den Ozean sehen. Bislang bist du nur bis in die Berge gekommen; sie sind lange nicht so eindrucksvoll wie das Meer. Auch über der Küste hängt Nebel – er kann schlimmer sein als der Nebel hier –, doch wenn der Nebel sich hebt, Homer … nun«, sagte St. Larch, »das mußt du einmal erleben.«
    Aber Homer hatte es bereits gesehen, er hatte es sich bereits vorgestellt – »die Nebel alle … die feierlich stiegen«. Er lächelte Dr. Larch an und empfahl sich; es war Zeit, eine Glocke zu läuten. Und das tat er auch – Glockenläuten –, als seine vierte Pflegefamilie in St. Cloud’s eintraf; Homer hatte keine Mühe, das Paar zu erkennen.
    Sie waren, wie man heute sagen würde, ein sportliches Ehepaar. In Maine, im Jahr 193–, als Homer zwölf war, galten die Leute, die Homer adoptieren wollten, schlicht als Fanatiker, die alles machten, was man in freier Natur machen konnte. Sie waren ein Wildwasserkanutenehepaar, ein Ozeanseglerpaar – ein Bergsteiger-, Tiefseetaucher-, Wildnis-Camper-Paar. Sie waren ein 100-Meilen-(im Eilmarsch)-Trekker-Ehepaar. Athleten – aber nicht aus dem Sportverein; ein organisiertes Memmensportlerpaar waren sie nicht.
    An dem Tag, als sie in St. Cloud’s eintrafen, läutete Homer Wells die 10-Uhr-Glocke vierzehnmal. Er war wie verzaubert von ihnen – von ihrem kräftigen, muskulösen Äußern, ihrem federnden Schritt, von seinem Safarihut, von ihrer Buschmachete in langer Lederscheide (mit Indianerperlen), die sie am Patronengurt trug. Beide hatten sie Stiefel an, die gut einmarschiert aussahen. Ihr Fahrzeug war ein handgebastelter Vorläufer dessen, was man in späteren Jahren als Campingbus bezeichnen sollte; es schien dazu dazusein, ein Nashorn zu fangen und zu beherbergen. Homer sah augenblicklich voraus, daß er gezwungen sein würde, Bären zu jagen, mit Krokodilen zu raufen – kurz, sich von dem zu ernähren, was der Boden hergab. Schwester Edna fiel ihm in den Arm, bevor er fünfzehn Uhr läuten konnte.
    Wilbur Larch war bewußt vorsichtig. Er fürchtete nicht für Homers geistige Entwicklung. Ein Junge, der selbst David Copperfield und Große Erwartungen gelesen hat, beide zweimal – und beide Bücher Wort für Wort vorlesen gehört hat, ebenfalls zweimal –, ist geistig besser gerüstet als die meisten. Dr. Larch fand, daß die körperliche oder athletische Entwicklung des Jungen weniger verläßlich gewesen sei. Sport war für Larch etwas Oberflächliches, verglichen mit dem Erlernen wichtigerer, notwendigerer Fähigkeiten. Larch wußte, daß das sportliche Angebot von St. Cloud’s – es bestand bei schlechtem Wetter aus Hallenfußball im Speisesaal – unzulänglich war. Bei gutem Wetter spielten die Knaben- und Mädchenabteilung Fangen oder Topfschlagen, und manchmal gaben sich Schwester

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