Gottes Werk und Teufels Beitrag
litten unter denselben Risiken, denen der Eisenbahnverkehr in jenen Jahren ausgesetzt war, denn sie kamen alle aus Three Mile Falls nach St. Cloud’s. Da war eine Frau, die Mathematik lehrte; sie war Buchhalterin bei einer Textilfabrik – »eine echte Steuerberaterin«, hatte Schwester Edna ausgerufen –, doch sie lehnte alles ab, was entfernt mit Algebra oder Geometrie zu tun hatte, und Additionen und Subtraktionen standen bei ihr entschieden höher im Kurs als Multiplikationen und Divisionen (Homer war schon erwachsen, als Dr. Larch entdeckte, daß der Junge nicht multiplizieren konnte).
Die Witwe eines wohlhabenden Klempners lehrte Grammatik und Rechtschreibung. Ihre Methode war streng und verzwickt. Sie präsentierte große Haufen falsch geschriebener Wörter, ohne Groß- oder Kleinschreibung, ohne Punkt und Komma, und dann verlangte sie, diese Haufen in richtige Sätze zu bringen, peinlich genau interpunktiert und korrekt geschrieben. Anschließend korrigierte sie die Korrekturen; das endgültige Dokument – sie verwendete ein System verschiedenfarbiger Tinten – glich einem oft revidierten Staatsvertrag zwischen zwei halbanalphabetischen Ländern im Kriegszustand. Der Text selbst blieb Homer beinah immer fremd, auch wenn er endlich richtig geschrieben war. Und zwar, weil die Frau eifrig aus einem Familiengesangbuch zitierte – und Homer hatte weder je eine Kirche von innen gesehen noch ein Kirchenlied gehört (wenn man die Weihnachtslieder nicht mitzählte oder die Hymnen, die Mrs. Grogan sang; aber die Klempnerswitwe war nicht so dumm, Weihnachtslieder zu benutzen). Homer Wells hatte Alpträume vom Entziffern der Texte, die die Witwe des Klempners zusammenbraute.
o här main god wan ych ihm härpst mir wunter
bedrachte disse wält fon dainer hant geschawen …
Oder:
o fälz ter efichkaiten gip zuhfluchd mihr bay tir …
Der dritte Hauslehrer, ein pensionierter Schulmeister aus Camden, war ein unglücklicher alter Mann, der im Haus seiner Tochter lebte, weil er nicht selbst für sich sorgen konnte. Er unterrichtete Geschichte, aber er besaß keine Bücher. Er unterrichtete Weltgeschichte aus der Erinnerung; die Jahreszahlen, sagte er, wären nicht so wichtig. Er war imstande, einen Wortschwall von einer vollen halben Stunde über Mesopotamien loszulassen, aber wenn er innehielt, um Luft zu holen oder einen Schluck Wasser zu trinken, fand er sich in Rom oder in Troja wieder; er rezitierte lange, ununterbrochene Abschnitte aus dem Thukydides, aber ein bloßer Schluckauf trug ihn nach Elba, zu Napoleon.
»Ich finde«, bemerkte Schwester Edna eines Tages zu Dr. Larch, »es gelingt ihm, ein Gefühl für die Bandbreite der Geschichte zu vermitteln.«
Schwester Angela verdrehte die Augen. »Wenn ich versuche, ihm zuzuhören«, sagte sie, »fallen mir hundert gute Gründe ein für den Krieg.«
Sie meinte, wie Homer es verstand, daß niemand so lange leben sollte.
Man begreift leicht, warum Homer an seinen häuslichen Pflichten mehr Freude fand als an Bildung.
Homers liebste Pflicht war, für Dr. Larch die abendliche Lektüre auszuwählen. Er sollte eine Passage abschätzen, für die Dr. Larch beim Vorlesen exakt zwanzig Minuten brauchen würde; dies war schwierig, denn wenn Homer sich selbst vorlas, las er viel langsamer als Dr. Larch, aber wenn er einfach leise für sich las, las er viel schneller, als Dr. Larch vorlesen konnte. Bei Passagen von je zwanzig Minuten pro Abend brauchte Dr. Larch mehrere Monate, um Große Erwartungen zu lesen, und mehr als ein Jahr, um David Copperfield zu lesen – wonach St. Larch Homer eröffnete, daß er wieder am Anfang von Große Erwartungen beginnen werde. Bis auf Homer waren alle Waisen, die Große Erwartungen schon einmal gehört hatten, fortgezogen.
Ohnehin verstand fast keiner von ihnen Große Erwartungen oder David Copperfield. Nicht nur waren sie zu klein für die Dickenssche Sprache, sie waren auch zu klein, um die alltägliche Sprache von St. Cloud’s zu begreifen. Worauf es Dr. Larch ankam, war die Idee des Vorlesens selbst – es war ein erfolgreiches Schlafmittel für die Kinder, die nicht wußten, was sie da hörten, und für die wenigen, die sowohl die Wörter wie auch die Handlung verstanden, war das abendliche Vorlesen eine Möglichkeit, in ihren Träumen, ihren Phantasien St. Cloud’s zu verlassen.
Dickens war Dr. Larchs persönlicher Lieblingsautor. Es war natürlich kein Zufall, daß sowohl Große Erwartungen als auch David Copperfield von
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